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Kinema 21: Lockt dieser Verleih die Jungen ins Kino?

Tagsüber singen sie für Gott, Nachts jagen sie "Sünderinnen": "Medusa" von Anita Rocha da Silveira.
Tagsüber singen sie für Gott, Nachts jagen sie "Sünderinnen": "Medusa" von Anita Rocha da Silveira.(c) BFF
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Ein neuer Verleih will mehr filmische Vielfalt auf heimische Programmkino-Leinwände bringen - und debütiert mit dem brasilianischen Genre-Mix „Medusa“. Im Gespräch mit der „Presse“ erläutern die Betreiber ihr Konzept.

Es tut sich was in der heimischen Programmkinolandschaft. Endlich. Nach der Corona-Friedhofsruhe ist der Groschen gefallen: Ohne neue Programmkonzepte bricht das (jüngere) Publikum langsam aber sicher weg. Daher weht nun erstmals seit gefühlten Ewigkeiten ein laues, aber frisches Lüftchen durch das eine oder andere städtische Lichtspielhaus. Etwa im Filmcasino, wo die Ko-Programmgestalter Gerald Knell und Nadine Oucherif verstärkt auf genre- und themenspezifische Sondervorführungen setzen: Musik- und Mitternachtsfilme, Animes, jüngere Hypestreifen wie „Marcel the Shell with Shoes On“. Oder im Stadtkino, wo Wiktoria Pelzer (die ab 2023 die Geschäftsführung von Norman Shetler übernimmt) eine feministische Filmreihe kuratiert und demnächst in Kooperation mit dem – besonders bei Jüngeren beliebten – Delikatessen-Streamingdienst Mubi das heuer in Cannes gefeierte britische Vater-Tochter-Drama „Aftersun“ auf hiesige Leinwände bringt.

Hinzu kommt neuerdings auch etwas, was man in Österreich bis vor kurzem fast nicht für möglich gehalten hätte: Ein neuer Filmverleih. Er heißt „Kinema 21“ und wird betrieben von drei in Wien situierten Leidenschaftstätern: Julian Stockinger, Martina Genetti, Otto Römisch. Unweigerlich drängt sich die Frage auf: Wie kommt man in einer Zeit, in der das Kino wieder einmal mit Zuschauerschwund und Bedeutungsverlust zu kämpfen hat, auf die Idee, einen Verleih zu gründen?

Leidenschaft statt Erfolgsdruck

Im Gespräch mit der „Presse“ bekennt Genetti, dass der Initiative etwas Verrücktes anhaftet. Sie hält sie aber auch für „notwendig“, da viele spannende Filme, die sich nicht in altbekannte Marketing-Schubladen stecken lassen, in den bestehenden Strukturen viel zu oft durch den Rost fallen würden. Was „Kinema 21“ einen offeneren Zugang bei der Auswahl ermögliche, sei der ehrenamtliche Charakter des Verleihs auf Vereinsbasis: Von der Vorstellung, mit der Veröffentlichung von Filmen Geld zu verdienen, sei das Trio nach kurzer Recherche bei Branchenkennern abgekommen: „Seid froh, wenn ihr mit Null aussteigt“, hieß es da.

Doch da die Gründer allesamt berufstätig sind (Stockinger ist Sozialarbeiter, Römisch findet sein Auskommen im Musikbereich, Genetti ist derzeit in Bildungskarenz), könne man es sich trotzdem leisten, ein gewisses Risiko einzugehen. Unbeleckt in Sachen Film ist die „Kinema“-Gruppe nicht: Genetti leitet beim Welser Jugendmedienfestival YOUKI den Filmwettbewerb, Stockinger berät das Wiener Slash-Filmfest beim Programm und gestaltet im Schikanederkino in Margareten die Genre-Schiene „Til Midnight Movies“, Römisch führt gemeinsam mit Sabrina Peer den in der heimischen Filmszene renommierten Podcast „Otto und Sabrina haben einen Gast und reden über Filme“.

2021 beschlossen die drei befreundeten Cineasten, ihre Träumereien in die Tat umzusetzen und den Versuch zu wagen, empfundene Lücken im heimischen Verleihbetrieb eigenhändig zu füllen (daher der Name „Kinema 21“). Wie schon erwähnt geht es ihnen dabei vor allem um Filme, die sich nicht in PR-Schablonen zwängen lassen, die klassische Kategorien und Erzählweisen aufbrechen, aber trotzdem unterhaltsam und publikumswirksam sind. Im Fokus sollen Debüts und Arbeiten von aufstrebenden Talenten stehen, bestenfalls mit Genre-Schlagseite – und von Regisseurinnen inszeniert: Internationale Beiträge zum alpenländischen Filmprogramm ließen diesbezüglich noch Diversität und Ausgeglichenheit vermissen, sagt Genetti. Kurzum: Eigenwillig, jung, weiblich und schillernd soll die Auswahl sein, aber nicht sperrig oder älteren Semestern unzugänglich. „Ich habe immer auch ein bisschen meine Mutter im Hinterkopf“, so Römisch.

„Medusa": Mit Neonfarben gegen Bolsonaro

Für seinen Einstand hat das Team einen Film ausgesucht, der die selbstgesetzten Kriterien vollumfänglich erfüllt: „Medusa“. Das Zweitlingswerk der 37-jährigenin Brasilianerin Anita Rocha da Silveira feierte 2021 in Cannes Premiere und war hierzulande bereits bei der Viennale und im Museumsquartier-Sommerkino frame[o]ut zu sehen. Es bietet brisante feministische Polit-Kritik im kunstsinnigen Rahmen, mit knalligem Genre-Anstrich auf subtil satirischem Grund: Eine Bande junger Frauen, Mitglieder einer faschistoiden evangelikalen Sekte mit hippem Aufputz, streunt des Nachts maskiert durch die Straßen, um vermeintliche „Sünderinnen“ aufzuspüren und zu bestrafen. Sie sehen sich als letzte Verteidigerinnen erodierender weiblicher Tugenden, sind aber selbst Opfer patriarchaler Verhältnisse: Die Prediger ihrer Gemeinde pochen auf ein unerreichbares konservatives Frauenideal makelloser Reinheit, bei dessen Nachahmung die Freundinnen unweigerlich zu Rivalinnen werden, sich nach und nach aufreiben und in den Wahnsinn treiben.

Als willfährige Dienerinnen einer zynischen Propagandaapparats (Bolsonaro lässt grüßen) arbeiten sie unwillkürlich einem Gesellschaftsentwurf zu, die ihr eigenes Leben und ihre persönliche Entfaltung zusehends erschwert. Als die Hauptfigur Mari (Mariana Oliveira) nach einer Verletzung nicht mehr den abstrusen Schönheitsidealen ihres Umfelds genügt, mutiert sie langsam zur Abtrünnigen: Die Suche nach einer sagenumwobenen, Medusa- und Lilith-artigen Frau, die von einem „Engel“ entstellt worden sein soll, führt sie sukzessive in eine Klinik für Komapatientinnen, auf nächtliche Raves, zu sexuellem Erwachen und befreiender Selbstbehauptung.

Rocha da Silveira inszeniert diesen Reifungsprozess in bunten, stilisierten, aber oft hermetischen und klaustrophobischen Breitwand-Tableaus, die den widersprüchlichen Kontrast zwischen der verführerisch poppigen Aufmachung moderner reaktionärer Ideologien und ihren rigiden, beengenden Rollenbildern betonen – vergleichbar mit Olivia Wildes rezentem Thriller-Hit „Don't Worry Darling“. Die Mädels singen und swingen im Chor vor magentafarbenen Neonleuchten, drehen Schminktipp-Videos für YouTube. Nur geht es in den Songs um Demut vor dem Herrn und in den Clips um die diskrete Kaschierung männlicher Prügelgewalt („Unfälle passieren!“). Doch das starre Gemeinschaftsgerüst verschwimmt mit der Ästhetik des Films, die immer mehr ins erlösend (Alb-)Traumartige abgleitet, unterstützt von Bernardo Uzedas synthesizerlastigem Retro-Soundtrack und einer trendigen, irisierenden Nachtclub-Optik im Geiste von Dario Argento und Nicolas Winding Refn. Immer wieder sorgen dezent gesetzte Horrormomente für Spannung im sonst eher gemessenen Handlungsfluss. Stockinger, Genetti und Römisch waren sich schnell einig, dass „Medusa“ eine Spitzenkandidatin für die Verleihzündung sei: „Je mehr wir darüber gesprochen habe, desto mehr hat uns der Film fasziniert“, sagt Genetti. Besonders bemerkenswert findet sie, wie Rocha da Silveiras Genre-Mix gesellschaftspolitische Ängste und einen laustarken feministischen Aufschrei mithilfe von fiebrig-schöner Phantastik vermittelt.

Marketing? Mundpropaganda!

Bei der Suche nach Partnerleinwänden schrieb das „Kinema“-Team Kinos in ganz Österreich direkt an. Während aus den Bundesländern bedauernde Absagen kamen – der Film wirke zu nischig, ein Start sei daher zu riskant – gab es in Wien einige positive Rückmeldungen. Bei der Deckung der Material- und Vertriebskosten ohne nennenswertes Eigenkapital halfen eine Kooperation der Gruppe mit dem ähnlich gepolten deutschen Verleih Drop-Out Cinema, der den Film in Deutschland zeigt – und das Entgegenkommen des belgischen „Medusa“-Weltvertriebs Best Friend Forever. „Sie waren bereit, uns zu unterstützen, weil sie als vergleichbares Passionsprojekt begonnen haben“, sagt Römisch.

Ein wenig Zusatzliquidität erhofft sich „Kinema 21“ künftig von fördernden Vereinsmitgliedschaften, bei der Bewerbung setzen die gut vernetzen Verleihbetreiber derzeit vor allem auf Social Media und Mundpropaganda. Sie sind sich bewusst, dass ihre Ressourcen beschränkt sind; daher liegt das avisierte Filmstartpensum gegenwärtig bei bescheidenen ein bis zwei Filmen pro Jahr. Sorge, dass ihnen das Material ausgehen könnte, gibt es nicht: Sie hätten bereits einige weitere Produktionen im Blick, die die Aufmerksamkeit einer breiteren Öffentlichkeit jenseits der Festivalblase verdient hätten, so Römisch.

„Medusa“ läuft derzeit in Wien, im Metro Kino sowie demnächst auch im Burg Kino, Votiv Kino, Schikaneder Kino und in den Breitenseer Lichtspielen.

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