Die Ich-Pleite

Spendenbriefe an alte Muatterln

Carolina Frank
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Vor Weihnachten häufen sich die Spendenbriefe, die alten Muatterln das Geld aus der Tasche ziehen sollen.

Vor Weihnachten häufen sich die Spendenbriefe und dadurch die Gedanken an meine beste Freundin Katja. Sie schreibt nämlich viele dieser Briefe. Es ist ihr Beruf. Sie setzt sich an den Computer und denkt eiskalt: Mit dieser Formulierung werde ich den alten Muatterln das Geld aus der Tasche ziehen.

Und wenn der Brief dann auch an ihre Adresse zugestellt wird, ist inzwischen Zeit ins Land gezogen. Katja liest den Brief und verwandelt sich augenblicklich in die damals nur vorgestellte Spenden­person namens Muatterl. Sie lässt sich zwischen Postfach und Altpapiertonne von ihren eigenen Worten ergreifen und spendet. Der Name des Blindenhundes habe sie so gerührt, sagt sie. Obwohl sie ihn selbst erfunden hat. Deshalb hat Katja nie Geld. ­


Je mehr Kunden sie hat, umso weniger Geld hat sie. Aber jetzt will sie das ­Problem angehen. Hoffnungsvoll frage ich, ob sie ein paar Daueraufträge kündigen werde. „Das nicht“, protestiert sie. „Die brauchen doch das Geld.“ Aber ihr gefalle das Narzisstische an ihrem Verhalten gar nicht. Deshalb werde sie jetzt auch für Organisationen spenden, für die sie keinen Brief geschrieben habe. Zum Beispiel das Neunerhaus. „Das Neunerhaus ver­mittelt Wohnungen für Obdachlose, das ist schon toll“, sagt Katja. „Und sie behandeln ihre Zähne! Und ihre Krankheiten! Und ihre Tiere!“ Ich ringe um missbilligende Blicke.

Ich mag den Hund am Plakat ja auch, der seit Neuestem in mein Fenster schaut. Er hat eine verbundene Schnauze. Jeden kann es einmal auf die Schnauze hauen. Er schaut arm aus. Aber auch stolz. „Wenn du willst“, sage ich zu ihr, „spende ich für das Neunerhaus und du dafür nicht.“ Katja strahlt mich an. In dem Moment begreife ich, dass meine beste Freundin mich zum ­Muatterl gemacht hat.

("Die Presse Schaufenster" vom 02.12.2022)

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