Mit den „Heimweh“-Regisseuren Victoria Halper und Kai Krösche durch den 9. Bezirk zwischen alter WU, ehemaliger „Kinderübernahmestelle“, besonderen Lokalen und dem eingerüsteten WUK.
Der 9. im Wandel: In die gute alte WU ist mit der Kulturplattform West die Kunst eingezogen - und die Fayencen „Die Kontinente“, die seit Anbeginn den 1982 errichteten Betonplattenbau schmücken, passten quasi noch nie so gut ins Haus. Am anderen Ende des ehemaligen Thurygrunds (der zweigeteilten Vorstadt zwischen Augasse und Währinger Straße) steht das Kulturzentrum WUK hinter Gerüsten. Fotos im Innenhof zu machen bedürfe einer Genehmigung, erfahren wir. Aber wir dürfen dann auch ohne: Sind doch Victoria Halper und Kai Krösche zwei Regisseure, die im West das Stück „Heimweh“ über die Verbrechen an Wiener Heimkindern umgesetzt haben – in Coproduktion mit dem WUK.

Auf halbem Weg zwischen den beiden Kulturstätten, in der Lustkandlgasse 50, dürfte man ohne Weiteres fotografieren – aber das möchten sie nicht. „Wenn man weiß, was hier passiert ist, will man nicht davor posieren“, sagt Krösche. Die ehemalige „Kinderübernahmestelle“ wurde 1925 von Architekt Adolf Stöckl als „Palast für Kinder“ entworfen. Über dem Eingang zitiert ein blaues Terrakotta-Medaillon den Renaissancestil – als Verweis auf das Florenzer Renaissance-Findelhaus Ospedale degli Innocenti. Doch die Reformpädagogik überlebte nicht lang, die an eugenischen Vorstellungen orientierte Kinder- und Jugendfürsorge führte zu einem System des Überwachens, Strafens und „Korrigierens“. Zehntausende Kinder wurden von hier aus durch Anstalten geschleust, viele von Alleinerzieherinnen – bis 1989 unterstanden ledige Mütter der Vormundschaft der Stadt.


„Für das Stück ,Heimweh‘, das diese Zustände thematisiert, haben wir mit vielen Betroffenen gesprochen“, erzählt Halper. „Erschütternd waren natürlich die Gewaltexzesse, aber auch die ,normalen‘ Erziehungsmethoden wie Prügel, Demütigung, Kellerhaft, Redeverbot, Zwang, aufzuessen.“ Zu den Verbrechen, die als „Heimskandal“ publik und 2012 im Historikerbericht der Gemeinde Wien dokumentiert wurden, prangt seit 2016 eine kleine Tafel am Gebäude. „Die einzige zu dem Thema in ganz Wien“, sagt Krösche.
Gemischte Eindrücke
„Man geht schon anders durch die Straßen, wenn man diese Dinge weiß“, sagt Krösche. Die beiden, seit 2016 in Wien, leben gleich um die Ecke „im hässlichsten Haus der Löblichgasse“, wie Halper meint. Sie sind gern in der Gegend unterwegs, die „so viele Gegensätze aufweist“, wie Krösche sagt. „Straßenschluchten“ wie die Lustkandlgasse, schöne Plätze wie der Sobieskiplatz, hippe Lokale wie das Tulsi in der Fluchtgasse und alteingesessene wie das Café Spitt in der Fuchsthallergasse mischen sich mit jenen, die man eher außerhalb des Gürtels vermuten würde.


„Die Lustkandlgasse hat viel Potenzial“, meint Krösche, „da wird sich in den nächsten Jahren sicher noch viel entwickeln“. Noch liegt die Gegend, anders als etwa das Servitenviertel, nicht im Fokus der Gentrifizierung. Oder doch? Die 1903 im Zuge der Verbauung des ehemaligen Linienwalls errichtete Canisiuskirche wird saniert, der einzige große Gemeindebau des Grätzels, der von Bernhard Pichler geplante, 1928 eröffnete Wagner-Jauregg-Hof zeigt sich in kräftigen Farben. Im Erdgeschoß präsentiert ein Schuster seine Waren im Dschungel zahlreicher Zimmerplanzen. Einige Ecken weiter lädt das Grand Café mit Kegelbahn ein, und schräg gegenüber, in der Währinger Straße 65, befindet sich das Naschkatzen-Dorado Confiserie zum süßen Eck.

Persönliches Highlight für Halper ist der Geschenke-Shop Alicia in der Währinger Straße 70: „So eine Fülle an so unterschiedlichen Dingen, davon lasse ich mich immer wieder faszinieren und bei Bedarf auf andere Gedanken bringen.“ Gewalt an Kindern zu thematisieren belaste natürlich. „Aber Kunst kann aufzeigen. Auch wenn sich viel gewandelt hat, ist das Thema fehlender Schutz für Kinder ja leider nach wie vor aktuell.“

ZUM ORT, ZU DEN PERSONEN
Die Lustkandlgasse verläuft im Bereich des ehemaligen Linienwalls und wurde ab 1890 verbaut. 1850 wurden die Vorstädte Thurygrund und Himmelpfortgrund mit fünf weiteren zum 9. Wiener Bezirk. Wohnungen kosten heute am Alsergrund durchschnittlich 7864 (alt) bzw. 8503 Euro/m2.
Victoria Halper und Kai Krösche sind in Wien als Kulturschaffende tätig, derzeit mit dem Stück „Heimweh“, bis 18. 12. im West.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 10.12.2022)