Glosse

Die "Europapartei" nimmt 26 Millionen Europäer in Geiselhaft

Das Veto der ÖVP gegen die Schengen-Mitgliedschaft Bulgariens und Rumäniens wird den Zustrom illegaler Migranten nicht drosseln. Dafür hat es sich die Republik mit etlichen Partnern verscherzt.

Ein Problem zu lösen versuchen, indem man ein neues schafft: Österreichs Nein zum Schengen-Beitritt Bulgariens und Rumäniens veranschaulicht den Mangel europapolitischer Weitsicht in der Führungsetage der größeren der beiden Koalitionsparteien. Der Innenminister und sein Bundeskanzler (oder ist's umgekehrt?) haben zweifellos recht, dass das Durchwinken zuletzt stark wachsender Zahlen illegaler Migranten auf dem Weg von der türkischen Grenze über den Balkan bis nach Österreich ein schweres Problem ist. Aber wie soll die Ablehnung des Beitritts von Bulgarien und Rumänien zum Schengen-Raum die Lösung dafür sein? Diese Menschen kommen jetzt schon maßgeblich durch zumindest ein Schengen-Mitglied, nämlich Ungarn. Müsste man da nicht, der Argumentation des Innenministers folgend, dass er es ablehne, den dysfunktionalen Schengen-Raum zu vergrößern, Ungarn hinauswerfen?

Das wäre natürlich grotesk. Und grotesk ist es auch, wenn die Republik - genauer: die ÖVP in der Koalitionsregierung - nun sieben Millionen Bulgaren und 19 Millionen Rumänen dafür bestraft, dass die gesamte Union unfähig ist, die Ursache der Migrationsmisere in Europa an der Wurzel zu packen. Nämlich: die Flüchtlinge und Migranten kommen nicht in jenen Mitgliedstaaten in der EU an, in denen sie bleiben zu können hoffen. Und diese Grenzstaaten - allen voran Italien und Griechenland - haben ein nachvollziehbares Interesse daran, dass sie schnell das Staatsgebiet wieder verlassen, um nach Österreich, Deutschland, Frankreich, Schweden, die Niederlande weiterzuziehen.

Die Idee des Innenministers, an diesen Außengrenzstaaten der EU Asylverfahren zu organisieren, klingt bestechend klar. Bloß unterstellt sie erstens, dass jene, denen man Asyl gewähren muss, weil sie Anspruch darauf haben, dann auch in Italien, Griechenland, oder Bulgarien bleiben. Das ist sehr unwahrscheinlich, wenn der reichere Norden und Westen Europas lockt. Zweitens würden diese Grenzasylverfahren große geschlossene Auffanglager erfordern, in denen die Asylwerber bis zum Erlass ihres Bescheides daran gehindert werden, sich zu verdünnisieren (wie das jetzt geschieht, und seit Neuestem auch in Österreich augenzudrückend so gehandhabt wird). Eine Lagersystem für zehntausende, mit der Zeit eher hunderttausende Asylwerber entlang des strukturell ohnehin ausgemergelten Südrandes der EU: ist das machbar, und wenn ja, ist es wünschenswert?

Mit dem Schengen-Raum und seinen Spielregeln hat all dies wenig zu tun. Dessen Dysfunktionalität liegt, entgegen der Darstellung des Innenministers, vielmehr darin, dass es zu viele dauerhaft-provisorische Grenzkontrollen zwischen den Mitgliedstaaten gibt. Von seiner Quintessenz, nämlich dem freien, unkontrollierten Reisen innerhalb eines gemeinsamen europäischen Raumes, ist nur mehr wenig übrig.

So bleibt ein großes Problem, nämlich der Anstieg der illegalen Einwanderung nach Österreich, durch das Schengen-Veto ungelöst. Dafür entsteht ein neues. Die Republik hat ohnehin nicht rasend viele Verbündete innerhalb der Union, wie Analysen des Abstimmungsverhaltens der Mitgliedstaaten im Rat seit Jahren zeigen. Nun läuft die Regierung Gefahr, es sich auch mit jenen Mitgliedstaaten in der unmittelbaren südosteuropäischen Nachbarschaft zu verscherzen, mit denen man doch eigentlich gemeinsame Politiken in Brüssel vorantreiben sollte.

Das sind Staaten, für die sich die Republik bisher und zu Recht oft stark gemacht hat. Lange scheint's her, dass die ÖVP stolz darauf beharrte, „die Europapartei“ im Land zu sein. Derzeit ist sie jedoch eher eine Landpartei in Europa - deren Horizont nicht über eine niederösterreichische Landtagswahl hinausreicht.

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