Culture Clash

Rechtsstaat und Reichsbürger

Ist das Getöse um die größte Razzia in der Geschichte der Bundesrepublik – auf jede Festnahme kamen 120 Beamte – nicht doch etwas wuchtig?

Waren diese Käuze mit ihren Spinnereien von einem im Verborgenen herrschenden „Deep State“ und dessen baldiger Vernichtung durch eine nebulose „Allianz“ tatsächlich gefährlich? Für die öffentliche Sicherheit wohl schon: Immerhin saß einer der Rädelsführer in den 1990er-Jahren im Gefängnis, weil er als Offizier Schusswaffen verscherbelt hatte; von 165 Waffen fehlt seit damals jede Spur. Aber sind sie wirklich „eine riesige Gefahr für unsere Demokratie“, wie etwa CSU-Chef Markus Söder getwittert hat?

Schon der Sturm auf das Kapitol hat gezeigt, dass ein Haufen Wutbürger weder eine gefestigte Demokratie ins Wanken noch einen Volksaufstand lostreten kann. Ein Rechtsstaat ist dafür ein viel zu stabiles Gebilde. Solang die meisten Menschen in dem Gefühl leben, ihre Stimme erheben und ihre Rechte durchsetzen zu können und nicht machtlos der Willkür ausgesetzt zu sein, so lang haben sie durch einen Aufstand mehr zu verlieren als zu gewinnen. Solang Menschen nicht hungern (nach Essen oder Gerechtigkeit), ist der Status quo immer attraktiver als alle von Putschisten angebotenen Alternativen.

Einem Rechtsstaat droht Gefahr nicht durch Umsturz, sondern durch Erosion. Indem man etwa Standards herabsetzt, wo es für die Regierenden praktisch und förderlich ist oder dem Sicherheitsgefühl des Wahlvolks dient. Erosion geschieht auch, wenn man politische Gegner im Namen des Rechtsstaats so bekämpft, dass es dem Vertrauen in das Rechtssystem schadet. Mit routinemäßig geleakten Staatsanwaltschaftsakten etwa. Oder wenn der SPD-Chef jetzt schon fordert, dass die AfD „flächendeckend auf die Beobachtungsliste des Verfassungsschutzes“ und raus aus dem Parlament und dem öffentlichen Dienst gehöre, weil unter den Festgenommenen (die bis zu einer Verurteilung als unschuldig anzusehen sind) auch zwei Ex-AfD-Leute sind.

Und das Dritte ist, die Ansicht zu bedienen, der Rechtsstaat sei heute schon nur noch Staffage. Nicht mehr Begrenzer, sondern Diener der Macht, ein scheinlegales Herrschaftsinstrument des „Deep State“. Diese Verschwörungstheorie ist kein Monopol der Rechten. „Uprising“, der 2009er-Hit von Muse, artikuliert diese diffuse Anklage, die sich von Critical-Race-Theoretikern bis zu den Coronaleugnern zieht: „They'll try to push drugs that keep us all dumbed down/And hope that we will never see the truth around“ usw. Der tätige Nachweis, dass dies nicht so ist, ist heute wohl die wichtigste Bringschuld von Politikern und Behörden, um unseren Rechtsstaat zu sichern – und mit ihm Freiheit und sozialen Frieden.

Der Autor war stv. Chefredakteur der „Presse“ und ist nun Kommunikationschef der Erzdiözese Wien.

meinung@diepresse.com

diepresse.com/cultureclash

("Die Presse", Print-Ausgabe, 11.12.2022)

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