Gastbeitrag

Weg mit der Geschichte!

(c) Peter Kufner
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Weil sich Menschen „unwohl“ fühlen, schreiben Tugendwächter Literatur und Geschichte um. Wer vereinnahmt da wen?

Der Autor

Michael Köhlmeier (geboren 1949) lebt als freier Schriftsteller in Vorarlberg. Er veröffentlichte zahlreiche Romane, Essays und Gedichte.
Dieser Gastbeitrag ist eine gekürzte Version eines Textes, der zuerst in der Dezemberausgabe des Magazins „Der Pragmaticus“ (derpragmaticus.com) erschienen ist.

Gespenster gehen um. Die Gespenster der kulturellen Aneignung und des Inkorrekten. Alle Besserwisser und Besserfühler – die vor allem – haben sich zu einer heiligen Hetzjagd gegen diese Gespenster verbündet. Die Forderung, „korrekt“ zu sein, ist so mächtig geworden, dass bereits der Gedanke, den Begriff definieren zu wollen, verdächtig ist. Wo gefühlt wird, braucht nicht definiert zu werden, differenziert schon gar nicht.

Jene anonymen Besucher von Konzerten in Zürich und Berlin, die sich beim Anblick von blonden Rastazöpfen auf der Bühne „unwohl“ fühlten, diese Feiglinge, die nicht einmal ihrem eigenen Namen so viel Korrektheit zusprechen, dass sie sich trauen, ihn in der Öffentlichkeit zu nennen, die haben sich gewiss nicht hingesetzt und über Haartrachten aus aller Welt und ihre kulturelle Bedeutung recherchiert. Nein, sie haben sich „unwohl“ gefühlt, und das hat genügt, damit die Veranstalter die Musiker von der Bühne verbannten. Auch das Standbild des antisemitischen Bürgermeisters Karl Lueger muss weg. Denn niemals hat es in Wien einen antisemitischen Bürgermeister gegeben! Weg mit der Geschichte! Es könnten sich ja Menschen unwohl fühlen, wenn sie an unsere – an ihre! – Geschichte erinnert werden.

Der österreichische Künstler und Musiker Klemens Wihlidal machte bereits vor zehn Jahren einen genialen Vorschlag. Man solle Lueger auf dem Sockel schief stellen. Sofort werde erkannt: Hier stimmt etwas nicht. An den Sockel könne die Behörde dann ein Schild anbringen lassen, auf dem erklärt wird, was mit diesem schiefen Herrn nicht stimmt. Ich finde, allein für diesen Vorschlag sollte man Wihlidal mit dem Goldenen Ehrenzeichen für Verdienste um die Republik Österreich auszeichnen. Sich nicht vor der Geschichte aus dem Staub zu machen, zugleich ihre Ungeheuerlichkeiten zu kennzeichnen, das ist eine Methode, die könnte von der ganzen Welt übernommen werden.

Oder fühlen sich dann die sensiblen Seelen wieder unwohl – vielleicht, weil sie Angst haben, irgendein schrecklicher Koloss, wenn er schief steht, könnte ihnen auf den Kopf fallen? Ich schlage vor, das Wort „unwohl“ zum Unwort des Jahres zu erklären!

Wer darf Othello spielen?

Aber ich will nicht nur schimpfen. Ich will Überlegungen anstellen, will es wenigstens versuchen. Am Beispiel Othello: Er ist schwarz. Warum eigentlich? Spielt seine Hautfarbe im Stück irgendeine Rolle? Aus korrektem Munde heißt es, nur ein Schwarzer dürfe auf der Bühne einen Schwarzen spielen. Warum? Weil nur ein Schwarzer ermessen könne, was es heißt, ein Schwarzer zu sein.

Das Argument, ein Weißer könne – auch mit dem besten Willen zur Empathie – nicht ermessen, was es heißt, durch Jahrhunderte diskriminiert zu werden, zieht im Fall des Othello nicht. Othello ist der Oberbefehlshaber der venezianischen Armee. Er ist reich und angesehen und mächtig. Von Diskriminierung keine Rede.

Wenn ein Weißer sich schwarz anmalt, um auf der Bühne den Othello zu spielen, und einige Weiße unten im Zuschauerraum sich dabei „unwohl“ fühlen – dann ist auch das ein Akt der emotionalen Aneignung. Denn: Der Weiße oder die Weiße, der oder die sich unwohl fühlt, tut, als ob er oder sie ein Schwarzer oder eine Schwarze wäre, der oder die zusehen muss, wie ein Weißer, der sich schwarz angemalt hat, auf der Bühne steht und den Othello spielt. Also er oder sie versetzt sich in die Rolle eines oder einer Schwarzen. Und er oder sie fühlt sich, sozusagen in dessen oder deren Namen, gedemütigt und kulturell vereinnahmt. Die Frage lautet: Ist diese Empathie, die wie alle Empathie so tut als ob, eine gute, während die Empathie des angemalten Schauspielers auf der Bühne eine schlechte ist?

Anerkennung und Differenz

Manche Philosophen sind der Meinung, dass nicht unbedingt ein Übermaß an Empathie zu gegenseitigem Verstehen und gegenseitiger Achtung führe, sondern die Anerkennung der Differenz. Ich denke nicht wie du, ich fühle nicht wie du, ich bin nicht wie du. Ich kann nur eines: so tun als ob. Im Theater nennt man diese Art der Anerkennung schlicht „Rolle“. Ich bin nicht der, den ich darstelle. Ich spiele ihn lediglich. Dabei braucht sich der Schauspieler nicht ans Publikum zu wenden und zu sagen: „Hört her, ich tue nur so als ob.“ Der Verfremdungseffekt des Bertolt Brecht ist nicht und war nie nötig. Das Theater als solches ist Als-ob!

Ich glaube – habe dafür allerdings keinen Beleg –, als Shakespeare den Othello schrieb, befand sich ein Schwarzer in seinem Ensemble, und ein Schwarzer war eine Sensation, auf die der Theaterdirektor nicht verzichten konnte, denn eine Sensation bringt Zuschauer, und auf Zuschauer war das Globe Theatre angewiesen, denn Subventionen gab's keine.

Man könnte es übertreiben und sagen: Jede künstlerische Tätigkeit ist ein Als-ob. Aber vielleicht ist das gar keine Übertreibung. Der Dichter tut, als ob er über das Leben und die Gesellschaft seiner Figuren Bescheid wüsste – man sagt: Er versetzt sich hinein. Aber es ist mehr: Er erfindet. Ob er dabei die „Realität“ abbildet und, wenn ja, wie genau er sie abbildet, das spielt eine viel geringere Rolle, als man annehmen möchte. Die „Realität“ eines Romans ist nie deckungsgleich mit der tatsächlichen Realität, der sogenannten „wirklichen Welt“ – was immer darunter zu verstehen ist.

Wenn also Karl May – über den das Feuilleton in letzter Zeit zu meiner großen Freude wieder spricht – von Amerika, vom Häuptling Winnetou, von den Apachen, den Comanchen, den Sioux erzählt, dann ist das die Realität seiner Romane. Es ist keine Verächtlichmachung der amerikanischen Ureinwohner. Kein Autor deutscher Sprache hat mit seinem Werk mehr Interesse, mehr Mitgefühl für diese Menschen geweckt als der gigantisch schrullige Mann aus Sachsen, der die Welt der Indianer ein zweites Mal erschaffen hat; der eine Realität neben der Realität erfunden hat, die nicht einschmeichelt und verzerrt, sondern vielleicht einfach nur zum Vergleich und zur Erforschung animiert. Gern zitiere ich den belgischen Dichter Henri Michaux: „Niemals ist man der Realität gewisser, als wenn sie eine Illusion ist, denn dann ist sie Realität kraft innerer Zustimmung.“

Es ist doch – verzeihen Sie! – zum Speiben, wenn man immer wieder erklären muss, dass ein fundamentaler Unterschied besteht zwischen einer Sozialreportage und einem Roman. Ein Roman, der sich wie eine Sozialreportage liest, ist ein schlechter Roman; eine Sozialreportage, die sich wie ein Roman liest, ist eine schlechte Reportage.

Tugend und Untugend

Die Tugend greift ein. Die Tugend sagt, sie darf eingreifen, sie muss eingreifen. Und sie muss unerbittlich sein. Wer sonst nichts hat, hat wenigstens recht. Die Tugend zeigt uns die komische Seite des Jakobiners. Der Rechthaber ist immer komisch, sogar wenn er recht hat. Auf der tragischen Seite steht die Guillotine. Warum aber ist die Tugend komisch? Schlicht deshalb, weil sie letztlich nur mit Mitteln der Untugend ihre Ziele erreichen kann. Vielleicht hat Robespierre, als er endlich auf dem Schafott stand, wohin er so viele geschickt hatte, und Monsieur Sanson, dem Scharfrichter von Paris, in die Augen sah, erkannt, dass jeder Mensch Tugend und Untugend in sich trägt, ergo er die Untugend nur ausrotten kann, indem er die Menschheit ausrottet. Aber dann fiel schon das Messer über ihm.

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("Die Presse", Print-Ausgabe, 12.12.2022)

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