100 Rätsel der Kommunikation, Folge 18. Der unmöglichste Ort, ein Gespräch zu führen, ein Ort des vertikalen Schweigens: der Aufzug.
Es gibt Orte, die sind gar keine. Es sind Unorte. Dort will man nicht sein. Außer man will verreisen – Flughäfen. Außer es ist bald Weihnachten – Einkaufszentren. Oder man will in den vierten Stock und will nicht schnaufen. Also: der Aufzug. Überhaupt der größte Unort der Kommunikation. Im Stiegenhaus dagegen, da geht es rund. Da wird „Hallo“ gerufen, gewunken, gedeutet, ignoriert, so getan, als hätte man sich nicht gesehen, da werden Neuigkeiten ausgetauscht, Andeutungen gemacht, zugezwinkert, Augenbrauen hochgezogen. Manche Architekten legen die Stiegenhäuser sogar extra großzügig an, damit all das passiert. Kommunikation braucht Orte. Und Kommunikation braucht Platz. Besonders, wenn Fluchttiere wie Menschen miteinander interagieren sollen. Aber manchmal vergessen Menschen, dass sie eigentlich flüchten wollten. Und fahren mit dem Aufzug.
Selig waren die Corona-Zeiten, als manche Bauwerke die 1-Fahrgast-Strategie fuhren, rauf und runter. Endlich war man für sich. Corona ist nicht vorbei, aber die Zeiten sind vorbei. Jetzt sind sie wieder da, alle anderen, die auch Aufzug fahren wollen. Und darunter sind so viele, die man nicht so gut kennt, dass man ihnen ungefragt die Erlebnisse der Partynacht von gestern aufs Ohr drücken könnte. Oder den unangenehmen Arztbesuch, der heute ansteht. Neben den meisten anderen Menschen im Aufzug steht man still und stumm. Worüber auch reden? Bis zum vierten Stock ist eine Wurstsemmel, die man in der Hand hält, vielleicht fertig besprochen. Die neue Frisur auch. Und der braungebrannte Teint vom Urlaub, aus dem man gerade zurückkommt. Aber das sind schon Glücksfälle. Meistens bietet der Aufzug ganz wenig Anhaltspunkte für Gespräche. Außer der Chef steigt ein. Und dem wollte man ja meistens schon lange irgendetwas reinsagen. Doch wahrscheinlich ist der legendäre „Elevator Pitch“ auch nur Legende. Und den Chef hat man zufällig im Aufzug noch dazu das letzte Mal vor zwei Jahren getroffen, um ihn vier Stockwerke lang anzuschweigen.
Aufzugsverhalten
Wenn man im Aufzug reden würde, wüssten wenigstens die Augen, wohin sie schauen sollten. Das Problem beim Schweigen: Man muss trotzdem irgendwo hinschauen. Und schon bei Wursttheken im Supermarkt und im Museum ist oft nicht ganz klar, wohin. Wenn die Verkäuferin die Wurstsemmel richtet, schaut man dann verlegen auf die anderen Würste, die man auch hätte nehmen können? Oder der Verkäuferin auf die Finger? Dass sie die Gurkerl ja nicht vergisst? Aber da fühlt sie sich doch bestimmt beobachtet.
Im Museum hängen und stehen auch viele Dinge, die man sieht, aber nicht genau weiß, wo man mit dem Betrachten anfangen soll. Oben vielleicht? Aber wo ist oben? Zum Glück ist inzwischen ja die Exit-Strategie für die Augen stets dabei. Das Smartphone. Das hat immer eine Nachricht im Angebot, die man noch mal lesen könnte. Da kann man immer ein wenig mit den Fingern herumwischen und so tun, als müsste man dringend über irgendetwas herumwischen. Die „Schmusedecke für Erwachsene“ haben Wissenschaftler das Smartphone schon einmal genannt. Es hilft ihnen und ihren Augen als Exit-Strategie. Schnell aus den Unorten der Kommunikation hinübergeschlüpft in die Komfort-Zone. Nur der Körper steht noch herum im Aufzug. Und den muss man im Aufzug dann trotzdem mit den anderen Körpern austarieren. Ein faszinierendes Schauspiel, wenn mehrere Menschen Aufzug fahren. „Elevator Osmosis“ hat man es auch schon einmal genannt. Die Konstellationen, wie die Menschen auf engem Raum zueinander stehen, mischen sich sofort neu, wenn einer aus- oder zusteigt. Verlässt einer von dreien den Aufzug etwa, tarieren die zwei Verbleibenden ihren Abstand automatisch neu aus. Die soziale Distanz ist daran schuld. Je besser man sich kennt, desto mehr Nähe hält man aus. Und für manche, die man im Aufzug treffen könnte, hilft – vom Abstand her – nur mehr das Stiegenhaus.