Gender Health Gap

Wie sich der Gender Health Gap bei ADHS zeigt

(c) Marin Goleminov
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Unter dem Begriff des Gender Health Gap wird verstanden, dass in medizinischen Studien der Mann – und zwar ein Mitte dreißigjähriger, ca. 85 Kilo schwerer Mann – als Norm gilt. Der Studienaufbau orientiert sich an der männlichen Gesundheit, die Ergebnisse sollen dann aber für alle – Männer wie Frauen – gelten. Wie passt das zusammen?

Gender Pay Gap, Gender Care Gap, Gender Pension Gap, Digital Gender Gap, Gender Data Gap – und der Gender Health Gap. Ziemlich viele Gaps. Und alle haben mit dem Geschlecht – Gender – zu tun. Es geht um die Unterschiede der Gleichstellung zwischen weiblich und männlich gelesenen Personen, und zwar in finanzieller, soziologischer und medizinischer Sicht. Der Gender Health Gap kann sich sowohl in der Diagnose als auch beim Studienaufbau zeigen. Die Österreichische Gesellschaft für Neuropsychopharmakologie und Biologische Psychiatrie gibt an, dass ADHS beispielsweise viermal häufiger bei Buben diagnostiziert wird als bei Mädchen. Einfach, weil die offizielle Symptomatik jener von Jungen entspricht und bei Mädchen häufig eine ganz andere ist.

Die Wienerin Ghazaleh Gouya Lechner unterstützt mit ihrem Unternehmen Gouya Insights Firmen bei der Studienplanung. Sie spricht mit der „Wienerin“ im Juli 2021 über die Gründe des oftmaligen Ausschlusses von Frauen in Studien: Frauen könnten aufgrund zyklusbedingter hormoneller Schwankungen und möglicher Schwangerschaften zu Verfälschungen der Studien führen. Untersuchte Medikamente könnten auch Ungeborenen schaden. Alexandra Kautzky-Willer, Professorin für Gendermedizin an der Medizinischen Universität Wien, gibt im März 2020 dem „Standard“ gegenüber an, dass in Studien oftmals nur 25 bis 30 Prozent der Probanden weiblich sind. Und diese befinden sich meistens schon in der Menopause.

Absolut nicht gleich!

Lechner betont gegenüber der „Wienerin“, dass sich der Hormonhaushalt, der Stoffwechsel, das Herz-Kreislauf-System, die Verteilung des Körperfetts und die Muskelmasse zwischen Männern und Frauen grundlegend unterscheiden. Daher funktionieren einige zugelassene Medikamente – bei deren Zulassung hauptsächlich mit männlichen Studienteilnehmern Untersuchungen durchgeführt wurden – bei Frauen nicht oder anders. Erkrankungen können verschieden verlaufen, und Medikamente werden oft unterschiedlich aufgenommen und abgebaut.

Die Studie „Sex-Based Differences in the Effect of Digoxin for the Treatment of Heart Failure” hat 2002 hat das Medikament „Digoxin“, das lang bei Herzschwäche oder Herzrhythmusstörungen verschrieben worden ist, erneut untersucht. Die Ergebnisse: Es erhöht das Risiko, an einem Herztod zu sterben, bei Frauen signifikant, obwohl es genau das verhindern sollte. Bei Männern wirkt es wie gewünscht.

Auch das Angiogramm, das zur Diagnose eines Herzinfarkts zurate gezogen wird, ist so ein Beispiel. Es wurde an männlichen Probanden entwickelt und soll blockierte Arterien zeigen. Diese sind bei Herzinfarkten in weiblich gelesenen Personen aber oft nicht verstopft. Das hat zur Folge, dass Frauen wieder aus dem Krankenhaus entlassen werden, obwohl sie ernsthaft und lebensbedrohlich krank sind. Dies behandelt die Autorin Caroline Criado-Perez auch in ihrem Buch „Unsichtbare Frauen“.

Atypisch heißt „nicht männlich“

Kautzky-Willer spricht gegenüber dem „Standard“ auch dieses Thema an: Eine Reanimation im Zuge von Erster Hilfe passiere bei Frauen weniger oft als bei Männern. Auch eine medizinische Versorgung im Fall eines Herzinfarkts dauere bei Frauen länger. Selbst wenn eine Frau die gleichen Herzinfarktsymptome wie ein Mann aufweist, wird sie im Krankenhaus nicht so dringlich wie der eines Mannes eingestuft. Kautzky-Willer meint, dass Frauen immer wieder unter „atypischen Herzinfarktsymptomen“ leiden – atypisch bedeutet hier „nicht männlich“.

Robert Wechsberg, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapeut mit dem Schwerpunkt auf ADHS in Wien, spricht in einem Interview mit der „Presse" an, dass sich diese Problematik auch in Richtung der Männer beobachten lässt: Er nennt dabei als Beispiel die Depression. Leiden Männer unter Depressionen, weisen sie häufig ganz andere Symptome als Frauen auf. „Eine Depression kann bei Männern oft nach außen orientiert sein – sie ist oftmals durch Aggressivität gekennzeichnet. Daher kommt es in diesem Fall häufig dazu, dass Männer unterdiagnostiziert sind, weil das klinische Bild einer Depression an den weiblichen Ausprägungen angelehnt ist“, erklärt er. Somit würde der Einbezug der Gender-Medizin sowohl Frauen als auch Männern zugutekommen.

Das, was bei der Depression für Männer geschieht, passiert bei ADHS für Frauen. ADHS ist die Abkürzung für die Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung. Dabei handelt es sich um eine neurobiologische Erkrankung, die als eine der häufigsten psychischen Krankheiten im Kindes- und Jugendalter gilt. Sie kann aber oft auch bis ins Erwachsenenalter andauern. Es gibt dabei verschiedene Subtypen, die unterschiedliche Symptome aufweisen. Manche Menschen leiden kaum oder gar nicht darunter, bei anderen können sie sehr ausgeprägt sein, was zu großen Einschränkungen im Alltag führen kann.

Bei Kindern wird ADHS deutlich häufiger bei Jungen als bei Mädchen diagnostiziert. Robert Wechsberg erläutert in einem Gespräch, warum das so ist.

Die Presse: Herr Wechsberg, wie diagnostiziert man ADHS überhaupt?

Robert Wechsberg: An sich ist es eine Diagnose, die vom Gespräch gestellt wird. Das heißt, ADHS ist in dem Sinn nichts Messbares. Dabei geht es um drei Symptomkomplexe: Konzentration, Hyperaktivität und Impulsivität. Diese werden entweder in einem psychiatrischen Gespräch oder bei einer klinisch-psychologischen Testung untersucht. Diese Testung wäre der Standard. Sie wird von Psychologen und Psychologinnen durchgeführt, die strukturierte Fragen über in diesem Fall relevante Bereiche stellen. Zusätzlich wird meist die Konzentration gemessen – das passiert mit simplen Tests, bei denen der Patient, die Patientin beispielsweise Dinge, die nicht dazupassen, identifizieren und eliminieren muss. Mithilfe dieser Aufgaben können die Genauigkeit und Schnelligkeit der Menschen analysiert werden und wie viele Fehler sie dabei machen. Das lässt dann auf das Konzentrationsverhalten und die Arbeitsweise schließen. Und diese Kombination – also die strukturierten Fragebögen in Kombination mit den quantifizierenden Tests – ergibt dann die Diagnose, oder eben nicht.

Gibt es in der Symptomatik einschlägige Unterschiede zwischen Buben und Mädchen beziehungsweise Männern und Frauen?

Generell ist es so, dass Mädchen eher Konzentrationsprobleme aufweisen, also dass die Hyperaktivität beziehungsweise die Impulsivität nicht so stark vorhanden ist. Das ist dann der  Unaufmerksamkeitstyp oder Tagträumertyp. Heißt, sie können dem Unterricht dann beispielsweise nicht so gut folgen, sind sonst aber eher unauffällig.

ADHS Symptome

Die Symptome bei ADHS können unterschiedlich ausgeprägt sein. Es gibt drei Untergruppen:

  • „Zappelphillipp/Zappelphillippa“: vorwiegend hyperaktiv-impulsiv
  • „Hans-guck-in-die-Luft“ oder „Träumsuse“ aka Tagträumer & Tagträumerin: vorwiegend aufmerksamkeitsgestört
  • Der Mischtyp: aufmerksamkeitsgestört und hyperaktiv

Gibt es im Zusammenhang mit ADHS nicht auch eine Hyperfokussierung?

Bei ADHS haben die Konzentrationsprobleme etwas mit unliebsamen Dingen zu tun. Also bei Dingen, die monoton sind, für die kein Interesse aufgebracht wird, ist die Konzentration ein Problem – 95 Prozent der Schule sozusagen (lacht). Im Kindergarten ist dem meist noch nicht so, denn dort beschäftigen sich Kinder vorwiegend mit Dingen, die ihnen Spaß machen. Also kann ein von ADHS betroffenes Mädchen im Kindergarten sehr vertieft, sehr konzentriert mit etwas spielen. Wenn es dann aber um Dinge geht, die nicht so spannend sind, bei denen es ruhig sein, still sitzen und zuhören muss, wird die Symptomatik auffälliger. Also im Kindergarten ist die Konzentration fast gar kein Thema. Sehr wohl aber die Hyperaktivität und Impulsivität. Hiervon sind vorwiegend Jungen betroffen. Unruhe, nicht still sitzen können – daher kommt eben auch dieser Begriff des „Zappelphilipps“. Natürlich betrifft diese Symptomatik auch Mädchen, aber der Schwerpunkt liegt da etwas mehr bei den Buben.

Wenn diese Problematik bekannt ist, kann man dann nicht schon früher eingreifen und entgegenwirken?

Ja, auf jeden Fall. Es ist generell so, dass ein nach außen getragenes Problem mehr auffällt, als wenn man es nach innen trägt. Das ist jetzt nicht nur auf ADHS bezogen, aber Menschen reagieren natürlich eher auf ein extrovertiertes Verhalten als auf ein Rückzugsverhalten – vor allem bei der Betreuung in Gruppen wie im Kindergarten oder der Schule. Aber man kann definitiv proaktiv entgegenwirken, indem man auch die zurückgezogenen Kinder auf dem Schirm hat und den Kontakt sucht.

Ändert sich die Symptomatik im Erwachsenenalter?

Ja, im Alter gehen die Hyperaktivität und Impulsivität zurück. Die Hyperaktivität verändert sich so, dass sie eher nach innen gerichtet wird. Die äußere Unruhe wird also zu einer inneren. Gedanken laufen parallel, es gibt kein Zur-Ruhe-Kommen, auch eine körperliche Rastlosigkeit ist vorhanden. Die Impulsivität ist meistens im privaten Bereich spürbar. Ist sie aber sehr stark ausgeprägt, sodass sie schlecht unter Kontrolle gehalten werden kann, führt das oft zu gröberen Problemen wie Gesetzeskonflikten, Unfällen oder auch einer Suchterkrankung. Dadurch wird versucht, diese Hyperaktivität und Impulsivität zu unterdrücken. Davon sind Männer stärker betroffen.

Warum ist das so?

Auch im Erwachsenenalter treten bei Frauen häufiger Konzentrationsschwierigkeiten auf als Probleme mit der Hyperaktivität oder Impulsivität. Außerdem sind sie schneller, wenn es darum geht, sich Hilfe einzuholen. Sie suchen sich selbst aktiv Unterstützung – daher ist dieser Gap bei der ADHS-Diagnosefindung im Erwachsenenalter gar nicht mehr gegeben.

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