Generation Therapie

Gibt es die "Generation Therapie"?

(c) Marin Goleminov
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Zur Psychotherapie geht vor allem die Generation „Work-Life-Balance“ samt ihrer erfundenen Probleme. Vorurteile wie diese machen die Runde – doch sind sie gerechtfertigt? Fest steht: In Österreich leidet fast jeder Zweite mindestens einmal im Leben an einer psychischen Erkrankung.

Ein Blick auf die österreichische Gesellschaft, und es wird schnell klar: Nicht nur die jungen, sondern auch die älteren Generationen sind von psychischen Erkrankungen betroffen. Dabei ist die Häufigkeit in Bezug auf das Alter ausgeglichen. Viele Menschen haben das Gefühl, dass Menschen heutzutage anfälliger für psychische Erkrankungen sind. Ein immer häufiger auftretendes Gesellschaftsphänomen ist zum Beispiel das Burn-out-Syndrom. Auch wenn es bei dieser Erkrankung keine kassenfähige Diagnose gibt, sehen Experten und Expertinnen als Grund die steigende Überforderung im Berufsalltag.

Die Gesellschaft formt die Betroffenen

Psychische Erkrankungen sind nicht erst im 21. Jahrhundert entstanden.
Die meisten Erkenntnisse zu psychologischen Diagnosen wurden allerdings erst in den letzten 50 Jahren gewonnen. Der Begriff des Burn-outs wurde zum Beispiel erst in den 70er-Jahren häufiger verwendet. Damals herrschte die Stigmatisierung von Erkrankten deutlich stärker als heute. Aufklärung und wissenschaftliche Erkenntnisse rund um die Notwendigkeit der Psychotherapie waren in der Öffentlichkeit kaum vorhanden. Das hatte Auswirkungen auf den Umgang mit einer Erkrankung – nicht nur bei den Betroffenen.

Claudia R. ist 52 Jahre alt. Als sie jünger war, konnte sie sich nicht vorstellen, einmal zur Therapie zu gehen. Nun besucht sie seit mehr als zwei Jahren regelmäßig ihre Therapeutin, mit der sie über den Umgang mit ihrem Burn-out-Syndrom spricht. Im Interview erzählt Claudia über ihre Symptome und darüber, wie sich ihr Zugang zu dem Thema Psychotherapie in den letzten Jahren verändert hat. Ihr Name ist fiktiv, da sie anonym bleiben möchte:

Die Presse: Claudia, wie würdest du deinen Zugang zur Psychotherapie beschreiben?

Claudia R.: Vor dreieinhalb Jahren hatte ich die ersten Anzeichen von Burn-out. Ich war sehr schnell überfordert bei der Arbeit, war sehr müde und einfach nicht zufrieden mit allem, was ich gemacht habe. Ich bin erst davon ausgegangen, dass ich nur einen Tapetenwechsel brauche, dazu hatte ich aber nicht genug Energie. Eine Freundin besucht selbst die Therapie und hat mir ans Herz gelegt, dass ich das auch ausprobiere. Mir wurde gesagt, ich hätte ein Burn-out. Mittlerweile geht es mir deutlich besser. Die Therapie besuche ich jetzt noch einmal im Monat als eine Art Nachbehandlung.

Hattest du auch schon Anzeichen eines Burn-outs, als du noch jünger warst?

Nicht, dass ich wüsste. Ich war schon immer sehr perfektionistisch und hatte immer hohe Ansprüche an mich selbst. Ich glaube, das hat letztendlich zu dem Problem geführt. Ich weiß gar nicht, ob ich damals vor 30 Jahren schon wusste, was ein Burn-out ist.

Würdest du sagen, es gibt einen Unterschied, wie damals und heute mit dem Thema der psychischen Behandlung umgegangen wird?

Ja. Heute wird viel mehr über psychische Erkrankungen gesprochen. Damals war es auch nicht unbedingt ein Tabuthema, aber viel darüber gesprochen wurde nicht. Ich glaube, man wollte sich gar nicht damit beschäftigen. (lacht) Ich bin sehr beeindruckt, wie gut meine Kinder zum Beispiel mit dem Thema umgehen. Die sind jünger und kennen sich oft besser aus.

Sprichst du offen über deinen Besuch einer Therapie?

Meine Familie weiß Bescheid und meine engsten Freunde. Ich gehe jetzt nicht zu jedem hin und erzähle, dass ich in Therapie bin. (lacht) Meinen Tiefpunkt habe ich schon hinter mir – und darüber bin ich sehr froh. Nach meiner Ansicht sollte man offen darüber reden dürfen. Es gibt viele Menschen, die die Therapie besuchen sollten. Sie haben oft Angst, dass sie von Freunden verurteilt werden. Das ist berechtigt. Meine Tochter sagt aber immer: „Ich gehe ja auch zum Hausarzt, und das ist das Gleiche.“

Über die Erkrankung sprechen

Bei Menschen, die psychisch erkrankt sind, reagiert das Umfeld sehr unterschiedlich. Das führt häufig dazu, dass es ihnen schwerfällt, über ihre Erkrankung zu sprechen. Die Konsequenz daraus: Maßnahmen werden zu spät ergriffen und das Ausmaß der Erkrankung wird – auch von den Betroffenen – unterschätzt.
Eine Studie des Berufsverbands Österreichischer PsychologInnen zeigt, dass rund 63 Prozent der Österreicher und Österreicherinnen ihrer Familie von ihrer psychischen Erkrankung erzählen würden. Mit Arbeitskollegen und -kolleginnen würden dagegen nur rund 21 Prozent offen sprechen.

Die Studie des Berufsverbands Österreichischer PsychologInnen verdeutlicht, dass Menschen, die Betroffenen nahestehen, eine hohe Verantwortung tragen. Ihre Reaktion hat eine erhebliche Auswirkung auf den Umgang mit einer psychischen Erkrankung. Wichtig dabei ist es, nicht auf eine Diagnose der Betroffenen zu warten, sondern ihnen auch bei Anzeichen einer Erkrankung zur Seite zu stehen.

Entwicklung der Diagnosen

Die Anzahl der Diagnosen für psychische Erkrankungen ist in den vergangenen 30 Jahren stark angestiegen. Während 1990 noch knapp über elf Personen je 1000 Einwohner arbeitsunfähig wegen einer psychischen Erkrankung waren, waren es der Statistik Austria zufolge 2021 bereits mehr als 38 Prozent.

Psychologen und Psychologinnen erklären den Anstieg von psychischen Erkrankungen mit dem wachsenden Leistungsdruck in der Gesellschaft. Häufig findet dieser am Arbeitsplatz statt, aber auch die nicht erfüllbaren Erwartungen an sich selbst stellen für viele Menschen ein Problem dar. In Österreich gibt es 23 anerkannte Methoden der Psychotherapie, die in vier Cluster aufgeteilt sind: psychodynamisch, humanistisch, verhaltenstherapeutisch und systemisch.  

Erkrankung ist nicht gleich Diagnose

Mit den Zahlen von Diagnosen muss allerdings vorsichtig umgegangen werden: Nicht jede Erkrankung führt zur Diagnose. Damals war der Zugang zur psychologischen Behandlung deutlich schwieriger als heute. Im Interview mit der „Südostschweiz“ erklärt der ehemalige Chefpsychologe der Psychiatrischen Dienste Graubünden Reto Mischol, dass Auffanginstitutionen besser aufgestellt seien. Daneben sei die Wahrnehmung der Gesellschaft sensibilisierter. Defizite würden besser erkannt, und heutzutage werde schneller Hilfe in Anspruch genommen. Es gibt mehr Hilfe für Betroffene – dementsprechend steigt die Zahl der Diagnosen.
In der Zeit der Digitalisierung erlebt die Gesellschaft eine hohe Beschleunigung. Mischol erklärt, dass dadurch vor allem die Anforderung an die Produktivität, die Flexibilität und die ständige Erreichbarkeit steigt.

„Was ist daran so schandhaft?“

Janina P. studiert Psychologie im Master. Sie ist 26 Jahre alt und möchte später selbst Psychotherapeutin werden. Als psychologische Assistentin bei der Agentur für Arbeit in Deutschland hat sie mit vielen Menschen zusammengearbeitet, die unter den unterschiedlichsten psychischen Problemen leiden. Als sie jünger war, besuchte sie selbst für zwei Jahre eine Psychotherapie. Im Interview erklärt sie aus Sicht der jüngeren Generation, wie sie selbst und ihr Umfeld mit der Situation umgegangen sind und wie sie die heute entstandene Öffentlichkeit zu dem Thema einschätzt.

Pauschalisieren wäre zu einfach

Menschen mit psychischen Erkrankungen gibt es in jeder Generation. Die Digitalisierung trägt dazu bei, dass sich die Gesellschaft im Hinblick auf ihre Flexibilität und ihre Produktivität anderen Herausforderungen stellen muss als damals. Die Wahrnehmung, dass Menschen heutzutage häufiger psychologische Hilfe in Anspruch nehmen, ist nicht falsch. Es müssen verschiedene Aspekte beachtet werden, die dieses Phänomen erklären. Eine „Generation Therapie“ gibt es nicht.  Es gibt zwar mehr Diagnosen, aber ebenfalls mehr Möglichkeiten – für jede Generation.

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