Seit 2018 wird Computerspielsucht von der WHO als eigenständiges Krankheitsbild anerkannt. 360.000 Betroffene soll es in Österreich geben. Videospiele können aber auch Teil einer Lösung sein. Unter anderem können sie in der Traumatherapie oder als ADHS-Medikament eingesetzt werden.
Vor 50 Jahren kam mit „Pong“ das erste kommerziell erfolgreiche Videospiel auf den Markt. Sorgte die simple Tischtennis-Simulation damals mit weißen Balken auf schwarzem Hintergrund für Begeisterung, ermöglichen es heutzutage aufwendig produzierte Spiele, in Umgebungen mit realitätsnahem Design oder in Fantasiewelten einzutauchen. Doch egal, ob es sich um ein simples Handyspiel für zwischendurch oder um ein aufwendig produziertes Blockbuster-Spiel handelt, dessen Herstellung 500 Millionen Dollar gekostet hat, digitale Spiele sind aus dem Alltag vieler Menschen nicht mehr wegzudenken. 5,3 Millionen Österreicherinnen und Österreicher spielten im Jahr 2021 Computer-, Videospiele oder Mobile Games. Das entspricht rund 60 Prozent der Bevölkerung, wie aus einer Studie des Österreichischen Verbands für Unterhaltungssoftware (ÖVUS) hervorgeht.
Allerdings: Der Ruf der digitalen Spiele könnte diverser nicht sein. Auf der einen Seite gelten sie vielen als lieb gewonnenes Hobby, auf der anderen Seite bergen sie Suchtpotenzial. Auf der dritten Seite kommt die Wissenschaft ins Spiel – und mit ihr ein Weg, Personen mit Traumata und psychischen Erkrankungen Linderung zu verschaffen. 2020 kamen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler der Universität Oxford zu dem Ergebnis, dass bestimmte Videospiele das Wohlbefinden erhöhen und dadurch die psychische Gesundheit der Spielerinnen und Spieler verbessern können.
Studienleiter Andrew Przybylski beschreibt dies folgendermaßen: „Unsere Ergebnisse zeigen, dass Videospiele nicht notwendigerweise schlecht für die Gesundheit sind. Tatsächlich kann Videospielen eine Aktivität sein, die sich positiv auf die psychische Gesundheit auswirkt. Eine Regulierung von Videospielen könnte den Spielern diese Vorteile vorenthalten.“
Die förderlichen Effekte würden jedoch nur dann eintreten, wenn aus intrinsischer Motivation gespielt werde, sagt Przybylski. Also aus Vergnügen gezockt werde. Mit anderen Worten: Während eine Tablette auch wirkt, wenn die Patientinnen und Patienten sie nur ungern schlucken, könnte die Wirkung von Videospielen an die Begeisterung der Erkrankten gekoppelt sein. Gerade bei spieleaffineren Kindern und Jugendlichen sollte dies ein geringes Problem sein. Weshalb das weltweit erste Videospiel, das als verschreibungspflichtiges Medikament zugelassen worden ist, speziell für diese Zielgruppe gedacht ist.
Handyspiel statt Ritalin?
2020 erhielt das Handyspiel „EndeavorRX“ von der US-Behörde für Lebens- und Arzneimittel (FDA) eine Zulassung als Behandlungsmittel für Kinder mit Aufmerksamkeitsdefizit-Hyperaktivitätsstörung (ADHS). Ziel des Spiels ist es, mit einem schwebenden Fahrzeug Levels mit verschiedenen Hindernissen bestmöglich zu meistern.
Einer klinischen Studie zufolge, die in der medizinischen Fachzeitschrift „The Lancet“ veröffentlicht wurde, hatte ein Drittel der Kinder, die „EndeavorRX“ fünfmal pro Woche 25 Minuten lang spielten, „kein messbares Aufmerksamkeitsdefizit“. Jedoch gibt es bei der Studie eine nicht unwesentliche Ungereimtheit. Wie das Technikportal „The Verge“ 2020 berichtete, wurde die Wirksamkeitsstudie zu „EndeavorRX“ von Ärzten durchgeführt, die Aktienoptionen an dessen Herstellerunternehmen besitzen. Auch aufgrund dieses Umstands muss betont werden, dass das Handy-Spiel nur als Ergänzung und nicht als Ersatz für herkömmliche ADHS-Behandlungsmethoden eingesetzt werden sollte. In Österreich wäre es derzeit nicht möglich, Videospiele als verschreibungspflichtige Medikamente einzusetzen. Für die Behandlung von ADHS bleiben zugelassene Medikamente wie Concerta, Ritalin oder Strattera daher weiter unerlässlich.
„Tetris“ als Traumatherapie
„Tetris“ ist eines der weltweit bekanntesten Videospiele. Bis heute wurde das Geschicklichkeitsspiel, bei dem herunterfallende, verschiedenförmige Blöcke zu geschlossenen Reihen sortiert werden müssen, mehr als 400 Millionen Mal verkauft. Dass das Spiel weit mehr als nur ein Zeitvertreib sein könnte, zeigt eine Studie der Universität Oxford sowie des schwedischen Karolinska-Instituts für klinische Neurowissenschaften. 2017 testete ein Forschungsteam um die Neurowissenschaftlerin Emily Holmes, ob es möglich sei, durch „Tetris“-Spielen die Ausbildung traumatischer Stresssymptome zu verhindern. Dafür wurden 71 Opfer von Kraftfahrzeugunfällen nach ihrer Einlieferung ins Krankenhaus untersucht, die auf ihre Behandlung warteten. Alle Teilnehmerinnen und Teilnehmer sollten sich dafür an das traumatische Erlebnis erinnern. Die eine Hälfte der Probanden sollte danach „Tetris“ spielen. Eine Befragung eine Woche später zeigte, dass die „Tetris“-Gruppe 62 Prozent weniger intrusive Erinnerungen an das Trauma hatte als die Kontrollgruppe. Intrusive Erinnerungen werden durch bestimmte Schlüsselreize ausgelöst und lassen die Betroffenen ein traumatisches Ereignis erneut durchleben. Ein vollbremsendes Auto könnte zum Beispiel ein Schlüsselreiz für eine intrusive Erinnerung an einen Verkehrsunfall sein.
In einer Aussendung der Universität Oxford erklärt Holmes, dass durch das Spielen verhindert werde, dass bestimmte Aspekte des Erlebnisses abgespeichert werden. Bereits 2009 kam eine Studie des Instituts für Psychiatrie der Universität Oxford zu einem ähnlichen Ergebnis. Zwei Probandengruppen wurde damals ein Video mit traumatisierenden Inhalten gezeigt. Die Probanden, die nach der Vorführung „Tetris“ spielten, hatten in der darauffolgenden Woche signifikant weniger Flashbacks als die Kontrollgruppe. Flashbacks bezeichnen mentale Bilder, die durch einen Schlüsselreiz ausgelöst werden und Erinnerungen an ein vergangenes Erlebnis hervorbringen. Ein Zeitraum von sechs Stunden nach einem traumatischen Erlebnis sei entscheidend, welche Erinnerungen dazu abgespeichert werden, erklärte die Psychologin Catherine Deeprose von der Universität Oxford 2009 in einer Presseaussendung.
Durch das Drehen und Verschieben der bunten, geometrischen „Tetris“-Steine werde das Gehirn ausgelastet, sagt Neurowissenschaftlerin Holmes. Dabei seien jene Gehirnareale aktiv, in denen optische und räumliche Eindrücke verarbeitet werden. Flashbacks greifen ebenfalls auf diese Verarbeitungsressourcen zurück, die aber durch die Spieleeindrücke bereits besetzt sind.

Die Forschung zur Behandlung von posttraumatischer Belastungsstörung (PTBS) mithilfe von Videospielen steht derzeit noch am Anfang. Barbara Haid, Psychotherapeutin und Präsidentin des Österreichischen Bundesverbands für Psychotherapie (ÖBVP), steht diesem Ansatz aber offen gegenüber: „Gerade komplex traumatisierte Menschen kippen immer wieder in Zustände, in denen sie das Trauma immer wieder erleben. Dann geht es darum, sie so schnell wie möglich aus diesem Zustand herauszuholen. ,Tetris’ kann einen Beitrag dazu leisten, oder dass es gar nicht so weit kommt. Dennoch sind weitere Skills dafür notwendig. ,Tetris’ in diesen Skills-Koffer hineinzupacken, finde ich aber sehr schlau.“
„Fluch und Segen“
Da Computerspielsucht jedoch nach wie vor ein massives Problem darstelle, warnt Haid vor zu viel Euphorie. Deshalb fällt auch ihr Fazit zweigespalten aus: „Computerspiele können unterstützend helfen. Aber sie sind Fluch und Segen zugleich. Ich sehe viel mehr computerspielsüchtige Menschen, die nur mehr in ihren virtuellen Welten leben und das Real Life an ihnen vorbeizieht.“ Die Behandlung erfolgt, wie bei anderen Suchterkrankungen, entweder mittels Entzugs oder Entwöhnung. Wobei Haid den Ansatz des kontrollierten Konsums vertritt, da sonst die Rückfallquote extrem hoch sei. „Wenn ich mit meinen Patienten mit Computerspielen arbeite, dann tauche ich gemeinsam mit ihnen in diese Welt ein. Sie erklären mir diese Welten, und ich arbeite mit ihnen das Hilfreiche und das Schädliche heraus. Erst vor wenigen Wochen habe ich mit einem süchtigen jungen Mann seinen Avatar begraben, und vielleicht schafft er es jetzt, ein Stück weit als der, der er ist, in die Welt zu gehen“, erklärt die Psychotherapeutin.
In Österreich gibt es derzeit weder eine zertifizierte Videospieletherapie, noch wäre es möglich, Videospiele als verschreibungspflichtige Medikamente einzusetzen. ÖBVP-Präsidentin Haid sieht jedoch die Möglichkeit, dass sich das ändern könnte: „In diesem Bereich passiert derzeit sehr viel, und es wird viel entwickelt. Derzeit ist beides nicht möglich. Das heißt aber nicht, dass das in zehn bis 15 Jahren nicht anders sein könnte.“
Herangezogene Quellen:
Bausteinspiel „Tetris" verringert traumatische Erinnerung nach Unfall: https://www.neurologen-und-psychiater-im-netz.org/neurologie/news-archiv/artikel/bausteinspiel-tetris-verringert-traumatische-erinnerung-nach-unfall
Gaming does not appear harmful to mental health, unless the gamer can't stop - Oxford study. https://www.ox.ac.uk/news/2022-07-27-gaming-does-not-appear-harmful-mental-health-unless-gamer-cant-stop-oxford-study
‘Tetris’ may help reduce flashbacks to traumatic events: https://www.ox.ac.uk/news/2009-01-07-%E2%80%98tetris%E2%80%99-may-help-reduce-flashbacks-traumatic-events
‘Tetris’ used to prevent post-traumatic stress symptoms: https://www.ox.ac.uk/news/2017-03-28-tetris-used-prevent-post-traumatic-stress-symptoms