Kunsttherapie

Wenn die Worte ausgehen: Kunst als Therapieform

(c) Marin Goleminov
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Die Kunsttherapie soll dem Ausdruck verleihen, was die Sprache nicht mehr zu sagen vermag. Sie soll erklären, heilen und verbinden. Doch ist das möglich? Und wie funktioniert das Konzept Kunsttherapie in der Praxis? Eine Rundschau.

Niederösterreich, am Speckgürtel Wiens: Auf der Spitze eines Hügels steht ein großes, weißes Herrenhaus. Umzingelt von spießbürgerlichen Eigenheimen. Besonders auffällig wäre hier nichts, doch: Ein monumentaler, vertikaler blauer Stern stört das Idyll, indem er das blütenreine Weiß der Fassade hart durchbricht. Ein gewundener Weg führt über einen kleinen Parkplatz in einen versteckten Innenhof. Folgt man diesem Weg, so werden immer neue Fassadendekorationen sichtbar: meterhohe Kopffüßler, riesige gelbe Sonnen. Diese naiv anmutenden Bilder passen kaum zu dem großen Haus mit repräsentativem Anschein. Worum es sich handelt?

Es ist das Museum Gugging. Ein Ort, an dem Menschen einst „nur“ kunsttherapeutisch behandelt werden sollten – und heute ohne jegliches Wissen um Kunst Bilder erschaffen, die mittlerweile international für schwindelige Summen gehandelt werden.

Der Stern an der Hausfassade stammt vom Gugginger Künstler Johann Hauser.
Der Stern an der Hausfassade stammt vom Gugginger Künstler Johann Hauser. (c) Ludwig Schedl

Gugging ist Österreichs wohl prominentestes Beispiel für die Anwendung der Kunsttherapie. Seit knapp 70 Jahren wird hier gemalt, gezeichnet und entworfen. Doch was bieten Kunsttherapeutinnen konkret an? Dass Kreativität ein Mittel zum Gefühlsausdruck ist, scheint plausibel. Auch, dass es manchmal leichter fällt, Emotionen oder sogar Traumata nonverbal auszudrücken – in vielen Fällen ist so etwas sogar gar nicht anders möglich.

Der entsprechende Berufsverband definiert seine zentrale Aufgabe wie folgt: In der Kunsttherapie soll Unbewusstes unmittelbar angesprochen werden. In einer Symbolsprache, denn häufig fehlen die Worte. Mithilfe von Imagination innerer Bilder und durch die Anregung der Fantasie werden im besten Fall Gestaltungsprozesse initiiert, die den Therapieprozess einleiten. Im deutschsprachigen Raum war die Ärztin Ita Wegmann 1921 die Erste, die kunsttherapeutische Ansätze in ihre Behandlungsformen integriert hat. Wegmann gilt mit Rudolf Steiner als eine der zentralen Figuren der anthroposophischen Medizin – eine Behandlungsphilosophie, von der man sich heutzutage immer mehr abgrenzen möchte.

 Im Museum in Gugging werden die Werke der Künstlerinnen und Künstler ausgestellt.
Im Museum in Gugging werden die Werke der Künstlerinnen und Künstler ausgestellt. (c) Felix Büchele Felixfoto

Die Kunsttherapie zählt zu den psychodynamischen Therapieformen. Die Psychodynamik ist ein breit gefasster Begriff, darunter fallen etwa auch analytische und tiefenpsychologische Therapieverfahren, aber auch speziellere Formen wie die Bewegungs- oder eben die Kunsttherapie.

Unzählige Anwendungsmöglichkeiten

Genauso breit wie die Definition ist das Anwendungsfeld gefächert. Mit Methoden der Kunsttherapie wird häufig in Institutionen wie Schulen und Kindergärten, aber auch in Einrichtungen für Menschen mit körperlichen und geistigen Einschränkungen und Kliniken gearbeitet. Bei Personen ohne diagnostizierte psychische Krankheiten wird sie bei diversen Problemen alltäglicher, aber auch weniger alltäglicher Natur angewendet. Beispiele hierfür sind die klassische Problembewältigung, Beziehungsthemen wie Trennung, Trauer oder Verlust, Schlafstörungen, Migrations- und Fluchterfahrung oder Aggressivität. Bei Menschen mit Diagnosen wird kunsttherapeutisch stets in enger Zusammenarbeit mit Psychologinnen, Ärzten und Kliniken im Allgemeinen gearbeitet. Beispiele für Anwendungsbereiche sind Traumabearbeitung, Somatisierungsstörungen, Chronifizierungen oder als Ergänzungstherapie zu neurologischen Erkrankungen.

Nicht nur Bilder an den Wänden: In Gugging sind auch andere Objekte zu finden.
Nicht nur Bilder an den Wänden: In Gugging sind auch andere Objekte zu finden. (c) Felix Büchele Felixfoto

„Man baut miteinander einen Ausweg“, sagt Edith Sandhofer-Malli, Obfrau des Verbands für Kunsttherapeuten Österreich. Sie ist selbst in diesem Bereich aktiv und bietet Coaching, psychologische Beratung und Kunsttherapie in ihrer Praxis im Burgenland an. Das „Presse“-Gespräch eröffnet sie mit einer Anekdote. Wie die allererste kunsttherapeutische Sitzung entstanden wäre? In einer Sitzung Sigmund Freuds, erzählt sie. Eine Patientin wollte wohl nicht reden, konnte nicht aussprechen, was sie belastete. Freud ließ sie kurzerhand ein Bild malen, um so Einblick in ihr Inneres zu bekommen. Ob diese Geschichte Wahrheitsgehalt hat, lässt sich wohl nur schwer nachweisen. Sie beschreibt aber jedenfalls eine Arbeitsweise, welche auch heute noch angewendet wird und tatsächlich mit Methoden der Traumdeutung vergleichbar ist.

Ansicht der derzeitigen Ausstellung „brut favorites.! feilacher's choice“ (bis März 2023).
Ansicht der derzeitigen Ausstellung „brut favorites.! feilacher's choice“ (bis März 2023). (c) Theo Kust

Zu Beginn der Therapie soll die Gesamtsituation des Menschen erfasst werden, um daraufhin jene Themen zu identifizieren, derer man sich im weiteren Verlauf annehmen wird. Die Bilder, die anschließend gemalt werden sollen, dienen vor allem dazu, in Korrespondenz mit dem Unbewussten zu treten. Sie sollen zudem nicht nur dem Patienten helfen, die Situation auszudrücken – sie bieten auch eine Hilfestellung für Therapierende, um auf Augenhöhe kommen zu können, um die Welt mit den Augen der Patienten zu sehen. Man baut sozusagen miteinander einen Ausweg, erklärt die Therapeutin.  

Von der „Irrenanstalt“ zum Szenezentrum

Zurück ins Museum Gugging: Hier werden vor allem die Bilder ausgestellt, die die Bewohnerinnen und Bewohner vor Ort – derzeit sind es insgesamt 13 Personen, zwölf Männer und eine Frau – im Rahmen ihrer Therapie geschaffen haben. Dabei handelt es sich nicht mehr um therapeutische Mittel zum Zweck, die Gemälde, Skizzen und Konzeptionen haben einen hohen künstlerischen Gehalt. Sie gehören zur „Art Brut“: Dieser Begriff wurde Mitte des 20. Jahrhunderts von dem Maler Jean Dubuffet geprägt. Er bezeichnet damit die sogenannte Urwüchsigkeit der Kunstprodukte, die unverbildete Gestaltungen außerhalb der kunsthistorischen Traditionen abbilden.

Eine historisch bedeutsame Entwicklung hat auch das heutige Museum durchlebt: Was Ende des 19. Jahrhunderts als „Irrenanstaltsfiliale Gugging-Kierling“ eröffnet wurde, ist heute Szenezentrum. Zunächst nur eine Außenstelle der in Klosterneuburg untergebrachten „Landes-Irrenanstalt“, erfolgt Mitte der 1920er-Jahre die Loslösung davon. Zur Zeit des Nationalsozialismus wurden hier Menschen, deren Leben als „unwert“ angesehen wurde, ermordet. Man spricht heute von bis zu 330 Personen, die in Gugging ihr Leben ließen.

Sowohl figurative als auch abstrakte Malerei ist in Gugging zu finden.
Sowohl figurative als auch abstrakte Malerei ist in Gugging zu finden. (c) Theo Kust

1954 erfolgte schließlich eine Modernisierung, der dort tätige Psychiater Leo Navratil begann, seine Patienten zu Diagnosezwecken Zeichnungen anfertigen zu lassen. Aus einer simplen Therapiemethode entwickelte sich bald mehr, nachdem einige Bewohner durch außergewöhnliches Talent auffielen. Es folgten Verkäufe in Galerien und Ausstellungen in Frankreich und der Schweiz. 1981 wurde das Zentrum für Kunst und Psychotherapie gegründet, Mitte der Achtziger fand ein neuerlicher Umbruch statt: Der Psychiater und Künstler Johann Feilacher übernahm die Leitung, eine seiner ersten Handlungen war es, das Therapiezentrum in eine Wohngemeinschaft umzuwandeln – in das „Haus der Künstler“.

Der sogenannte Patientenstatus ist seither aufgehoben, der Mensch und sein Werk stehen im Mittelpunkt. Als internationale Ausstellungen und Preisverleihungen die Art Brut in Gugging immer mehr ins Scheinwerferlicht der renommierten Kunstszene rückten, wurde zunächst eine Galerie, dann ein Atelier und 2006 letztendlich ein Museum eröffnet. Den Schaffenden bietet sich nun eine permanente Bühne, direkt am Ort des Geschehens. Im Museum werden demnach grundsätzlich nur die Werke der Künstlerinnen und Künstler aus Gugging selbst ausgestellt, sowie auch angekaufte oder geliehene Arbeiten anderer Vertreter der Art Brut. Im „Atelier Gugging“ hingegen ist jeder willkommen, der sich künstlerisch betätigen möchte – hier werden keine Ansprüche an malerische Qualität oder Erfahrung gestellt.

»„Ein psychiatrischer Patient war unter einem ,Clochard’, weil der hat zumindest keine Kosten verursacht.“«

Johann Feilacher

Besonders die Aufhebung des Patientenstatus war laut Feilacher ein wichtiger Schritt, um der Arbeit der Menschen den Wert zu verleihen, der ihr zusteht. Auch wenn sich an der Betreuungssituation nicht viel verändert hat, so wurde den Bewohnerinnen und Bewohnern ein gewisses Maß an Selbstverständnis wiedergegeben. Wer in Gugging arbeitet, solle Künstler sein – die psychische Beeinträchtigung spiele nur eine kleine Nebenrolle. Sie solle als Gabe gesehen werden, als Mittel zum Zweck der Art Brut, stellt der künstlerische Leiter klar. Ein „guter Hauser“ – gemeint ist damit Johann Hauser, einer der bekanntesten Maler Guggings – werde international für etwa 100.000 Euro gehandelt, er sei damit ausschließlich als Künstler gefragt. Seine Erkrankung? Die sei nebensächlich, seine Privatsache.

Abgrenzung zur Esoterik

Um in Österreich als Kunsttherapeut arbeiten zu können, muss eine vierjährige Ausbildung absolviert werden. Um diese beginnen zu können, muss man weder Matura noch einen Studienabschluss besitzen – Voraussetzung ist die Vollendung des 18. Lebensjahres sowie das Bestehen eines Aufnahmeverfahrens. Anders als in vielen anderen Ländern ist diese Form von Therapie jedoch nicht offiziell anerkannt, sondern gilt nur als Ergänzung zu anderen Verfahren. Die Ausbildung schließt mit einem Diplom ab, die Abschlussarbeit konzentriert sich in der Regel auf ein praktisches Feld: Dazu zählen diverse soziale Einrichtungen wie Frauenhäuser, Kinder- oder Behindertenheime, aber auch medizinische Institutionen wie Krankenhäuser oder Psychiatrien.

Die Ausbildung wird vor allem angeboten sowie absolviert, um Seriosität zu gewährleisten, erklärt Edith Sandhofer-Malli. Denn dass die Kunsttherapie immer wieder als esoterische Methode abgetan wird, ist laut ihr ein ernst zu nehmendes Problem. Nicht zuletzt das habe überhaupt zu der Gründung des Berufsverbandes geführt, dessen Obfrau sie selbst ist. Damit soll die Möglichkeit geschaffen werden, seriöse Quellen und Anbieter zu identifizieren und von anderen zu unterscheiden. Derzeit liege sogar ein Antrag im Gesundheitsministerium, um eine klare Abgrenzung zwischen ausgebildeten, diplomierten Therapierenden und esoterischen Arbeitsweisen zu erwirken. Die „unseriöse Vermischung“, die, wie sie sagt, immer noch stattfindet, ist ihr bewusst – aber ausdrücklich unerwünscht.

Was die Kunsttherapie ausmacht? Das ist auch nach einer längeren Recherche nicht eindeutig zu beantworten. Sie wird in Krankenhäusern und anderen Kliniken angewendet, in Therapiezentren, sozialen Einrichtungen und privaten Ordinationen. Bilder werden in Therapieräumlichkeiten ausgebreitet oder an große Museumswände gehängt, verschwinden in Akten oder werden um hohe Summen gehandelt. Menschen mit den unterschiedlichsten Hintergründen werden kunsttherapeutisch behandelt. Fest steht aber: Kunsttherapie kann bei diagnostizierten psychischen Krankheiten keine herkömmliche Therapie ersetzen, betont auch Sandhofer-Malli. Das will sie aber auch gar nicht – vielmehr soll sie ergänzend wirken, eine Verbindung zwischen Patient und Therapeut schaffen und ein Verhältnis auf Augenhöhe zulassen.

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