Schön weiß breitet sich der Strand in in St. Pete in der Tampa Bay aus.
Sunshine State

Floridas Westen: Wo der Pelikan mürrisch wird

Das boomende St. Petersburg und Clearwater, Floridas kleiner Gegenentwurf zu Miami, sind neue Destinationen im Westen des Sunshine States.

Hello bitch, how d’you do?“, ruft eine junge Frau einer Kellnerin auf der anderen Straßenseite zu – die winkt begeistert zurück. Nein, nicht in der Bronx in den Achtzigerjahren. Sondern 2022 mitten im gentrifizierten St. Petersburg, kurz St. Pete, und selbstverständlich sind beide Damen gut gekleidet. Floridas 260.000-Einwohner-Stadt auf der Pinella-Halbinsel im gleichnamigen County wurde vom ihrem Mitbegründer Peter Demens (1850–1919, früher Pyotr Alexeyevitch Dementyev, Urgroßneffe Leo Tolstois) nach seiner Geburtsstadt benannt. Ihm gehörte auch die Orange Belt Railway (1885), die Fahrgäste und Zitrusfrüchte aus dem Landesinneren brachte und deren letzter Arm erst 1984 stillgelegt wurde.
Downtown St. Petersburg liegt in der Tampa Bay Area, einem Metropolgebiet von knapp drei Millionen Einwohnern. Die Strandregionen am Golf von Mexiko nahmen, wohl aus Distinktionsgründen, die Verkürzung des Stadtnamens in St. Pete offiziell vor. Sie schreiben es gern „St Pete“ ohne Punkt. Als ihr Symbol wählten sie den Pelikan, obwohl im nahen Williams Park mit seinen Obdachlosen neben dem Veteranendenkmal höchstens ein paar blitzblanke Reiher herumstolzieren. Sie wackeln durch den feuchten Rasen, manchmal picken sie nach Leckerbissen. Sieht man von den knallroten Werbeskulpturen ab, zeigen sich in Downtown keine echten Pelikane.

Sonnenscheinstadt

Von Floridas Schönheiten kennen wir vor allem Miami und den Marschland-Nationalpark der Everglades. Die bisher unterbelichtete Golfküste erstreckt sich vom griechisch geprägten Tarpon Springs im Norden, spezialisiert auf den Verkauf von Schwämmen („world capital of sponges“), bis zum Fort de Soto Park mit seinen militärischen Ruinen aus dem Spanisch-Amerikanischen Krieg (1898) und einem familientauglichen Strand: Schnorcheln, Kajak, Angelsport.

Courtesy of VisitStPeteClearwater


Die Besonderheiten des einst verschlafenen St. Pete und des etwas mondäneren Clearwater nebenan gerieten erst jüngst in den Fokus. Vielleicht liegt es an den 361 Sonnentagen im Jahr, die öfter durch heiße Starkregen unterbrochen werden. Wir sprechen von der „Sunshine City“ im auf den Autokennzeichen des tropischen Südstaats beworbenen „Sunshine State“. St. Pete, vor dem Bauboom als Pensionistenparadies bekannt, zieht heute eine junge Klientel mit Regenbogenfahnen an. Die Szene steigt im schwulenfreundlichen Postcard Inn ab, Sunset Beach auf Treasure Island gilt als LGBTQ-Hotspot.


Ken Welch, afroamerikanischer Bürgermeister, fördert für seine Community Projekte wie den St. Pete’s African American Heritage Trail oder das Shine Mural Festival: Jeden Oktober bemalen und besprayen lokale und internationale Künstler wie Drew Merrit, MadC (Claudia Walde) oder Cryptik blanke Wandflächen. „Andere Festivals übermalen die gleichen Wände immer wieder neu, aber mir behagt das nicht“, meint Festivalchefin Jenee Friebe. „Der Immobilienmarkt ist außer Kontrolle. Vor 15 Jahren war hier noch gar nichts, plötzlich kaufen sich Leute aus New York oder L. A. die neuen Wohnungen.“ Wandgemälde halten deutlich kürzer als noch bis vor Kurzem.

Ein Hort dahinschmelzender Uhren: das Salvador Dalí Museum.
Ein Hort dahinschmelzender Uhren: das Salvador Dalí Museum.(c) Copyright 2008 Dana Hoff. All rights reserved

Dalís amerikanisches Wohnzimmer

Die Verwaltung investierte 92 Millionen Dollar in den Pier am Hafen, wo das Tampa Bay Watch Discovery Center interaktiv das Ökosystem einer einzigartigen Bucht beschreibt. Zum Glück verursachte der jüngste Hurrikan Ian hier nur minimale Schäden. Nebenan befindet sich das Dalí-Museum. Das Industriellenehepaar Reynolds and Eleanor Morse (1914–2000 und 1912–2010, sie haben sogar einen gemeinsamen Wikipedia-Eintrag) befreundete sich 1943 mit Dalí und dessen Frau Gala. 1982 zog die mit 2140  Werken größte Dalí-Sammlung außerhalb Europas von Ohio nach Florida. Das Nachfolgemuseum an der Waterfront von St. Pete startete 2011, ein von charmanten Glaspyramiden mit 1062 dreieckigen Glasstücken umranktes Betonding, verspielt im Sinne Dalís.
Einer der Viehwaggons, mit denen Menschen in Konzentrationslager transportiert wurden, steht im Florida Holocaust Museum, gegründet von den Überlebenden Walter and Edith Lobenberg. Gerade im amerikanischen Süden, wo in der Fake-News-Ära Menschen zunehmend glauben, dass all diese Dinge nicht passiert sind, zeugt die beklemmende Ausstellung von einer Vernichtungsideologie. Auch junge Österreicher halten hier ihren Zivil- oder Gedenkdienst ab.


Erholen kann man sich von Weltkrieg und Dalí im Mazzaro’s Italian Market, einem Delikatessen-Feinkostmarkt, eingerichtet 1993 von lokalen Ferrari- und Vespa-Fans in einer ehemaligen Wurstfabrik. Über der Café-Theke mit Sitzplätzen wabert und labert das bizarre Botoxgesicht Silvio Berlusconis über den und auf dem Bildschirm. Samstags ist Mazzaro’s gepackt voll. Wer an der Vitrine Mittagessen kauft, kann es sich aufwärmen lassen, zur Theke mitnehmen, zum Kaffee verspeisen – und zahlen, ohne je an Supermarktkassen anzustehen.

 Vieles schön bunt hier  in St. Pete. Besonders  die Looper Trolleys.
Vieles schön bunt hier in St. Pete. Besonders die Looper Trolleys.Courtesy of VisitStPeteClearwater


Still und pummelig steht ein Leuchtturm aus dem Jahr 1858 in der wilden Vegetation des unbewohnten Inselchens Egmont Key. Die vor gut hundert Jahren he­runter­gebrannten Ruinen des Fort Dade geben Zeugnis vom Krieg gegen Spanien, die Natur holt sich ihren Anteil zurück. Am Strand werden Muschelsucher glücklich, finden sogar den einen oder anderen Haifischzahn. Auf der nur per Boot erreichbaren Naturschutzreserve ohne Gastronomie und Bewohner – ihr südlicher Teil, U. S. Fish and Wildlife Refuge, darf nicht betreten werden – tummeln sich neben den lokalen Vögeln und wenigen Tagesgästen vor allem endemische Gopherschildkröten, durch Habitatsfragmentierung amerikaweit vom Aussterben bedroht.


Begegnungen mit Schildkröten, die man fotografisch festhalten möchte, gestalten sich in der Wildbahn oft problematisch. Die misstrauischen Kröten ziehen angesichts des menschlichen Vorstoßes schreckhaft ihren Kopf in den Panzer ein und fauchen katzenartig, was wiederum den Menschen erschreckt. Es entzieht sich ja ihrer Kenntnis, dass sie nur abgebildet und nicht etwa zu Schildkrötensuppe verarbeitet werden. Irgendwann strecken sie unweigerlich den Kopf aus dem Panzer. Klick! Nach Analyse der Lage und Abwägung der Gefahr setzen die Mutigeren unter ihnen mit schwerfälligen Schritten, wohl kopfschüttelnd, den Weg durch den Sand fort.

Pass-A-Grille

Der Sand des vier Meilen langen In-Strands Pass-A-Grille mit dem weichen Salzwasser des Golfs von Mexiko könnte als weiß bezeichnet werden. Auf einem Steinblock sitzt ein Pelikan, ruht sich aus, betrachtet das Meer, gute fünf Minuten lang. Bis ein Kanadareiher in seine Richtung flattert – und er übel gelaunt die Flügel ausbreitet, losfliegt. Für ihn geht es weniger ums Territorium als um den frischesten Fisch. Manchmal stürzen sich Pelikane und Reiher nebeneinander ins Wasser. Die Reste des Gemetzels fressen die Möwen.


Maryann Ferenc führt nicht nur ein Downtown- und ein Flughafenlokal. In der CovidZeit hat die energetische Dame das Dewey in der historischen 8th Avenue von Pass-A-Grille eröffnet, inklusive einer Rooftop-Bar mit spektakulärer Aussicht auf Bucht und Golf. Ferenc bietet eine „Dining Experience“. Das klingt ungemütlich bis mühsam, doch in ihrem Fall passt die Phrase. Amerikanische Austern sind bei den Gästen beliebt, das Signature Dish des jungen Chefs Benjamin Hooper ist jedoch ein simples: gebratene Kohlsprossen mit Nüssen und Apfelscheiben. Auch fabriziert er einen exzellenten Aufstrich aus geräuchertem Fisch. „Ich hab’ einfach alles weggelassen, was ich bei geräucherten Aufstrichen in anderen Lokalen nicht mochte“, erklärt Hooper bescheiden.

The She Crab

Clearwater (120.000 Einwohner) mit seiner vielfältigen Vegetation und einem Miami-artigen urbanen Kern wächst ebenfalls exponentiell. Die Stadt genießt einen berüchtigten Ruf wegen des Flag Buildings, Sitz der pseudowissenschaftlichen Scientology-Sekte, deren Sympathisant Gottfried Helnwein einst meinte, sie sei „der größte Durchbruch in der Geschichte der Erforschung menschlichen Denkens und Verhaltens“. Für die Sektenelite ist sie jedenfalls eine Geldvermehrungsmaschine. 1979 wollte Scientology sogar die Kontrolle über die Stadt übernehmen – ein Aufdeckungsartikel in der „St. Petersburg Times“ setzte dem Spuk ein Ende.


Am Strand auf der vorgelagerten Landzunge versöhnt man sich rasch mit Clearwater. Jenseits des Flag Buildings ist alles ein bisschen Rock ’n’ Roll. Der turbulente Frenchy’s Rockaway Grill serviert neben Zackenbarsch die herzhafte „She Crab Soup“ und eine äußerst nordamerikanische Ceviche.
Das Clearwater Marine Aquarium in der Lagune dreht wiederum die Verhältnisse um – hier dienen nicht die Meerestiere der Bespaßung von Menschen, sondern werden nach Unfällen oder Erkrankungen in einem Hospital mit Operationssaal wiederaufgepäppelt. Das Non-Profit-Aquarium setzt auf Info anstelle von Shows mit abgerichteten Psychoexemplaren. Delfine, Otter und Schildkröten profitieren von den Künsten der Tierärztinnen – nach ihren Behandlungen und Operationen werden sie behutsam und getreu dem System Rescue/Rehab/Release ausgewildert. Der Superstar hieß Winter (2005–2021), ein weiblicher Großer Tümmler mit einer eigens angefertigten Schwanzflossenprothese, der in den „Dolphin Tales“-Spielfilmen zum Weltstar wurde. 

Infos

Übernachten: Postcard Inn, LGBTQ-freundlich, St. Pete Beach, postcardinn.com
Berkley Beach Club, Boutique
Hotel in Pass-a-Grille-Strand, St. Pete Beach, berkeleybeachclub.com
Anschauen: Salvador Dalí ­Museum, St. Pete, thedali.org
Florida Holocaust Museum,
St. Pete, thefhm.org
Clearwater Marine Aquarium,
keine Shows, Clearwater Beach,
seewinter.com
The Pelican, Schifffahrten von St. Pete nach Egmont Key, St. Pete, thepelicanstpete.com
Shine Mural Festival, jeden
Oktober, stpeteartsalliance.org
Essen: Bodega, eatatbodega.com
Baba on Central, eatatbaba.com
The Dewey, miseonline.com,
Frenchy’s Rockaway, frenchysonline.com
Infos: VisitStPeteClearwater.com

(APA)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.