Interview

Schwarzenberg im Interview: „Russland wird zerfallen“

Karl Schwarzenberg.
Karl Schwarzenberg.Stanislav Jenis
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Tschechiens Ex-Außenminister Karl Schwarzenberg prophezeit einen langen Ukraine-Krieg und eine Niederlage Russlands. Er hält die Neutralität weiterhin für nützlich, Sebastian Kurz für einen „falschen Fuffziger“ und die ÖVP für existenzgefährdet.

Sie haben schon 2014 davor gewarnt, dass die Annexion der Krim nur die Vorspeise für Putin sei und der Hauptgang die gesamte Ukraine sein könnte. Ist den Russen nach den militärischen Rückschlägen der vergangenen Monate mittlerweile der Appetit auf diverse Nachspeisen vergangenen?

Karl Schwarzenberg: Der Appetit vergeht nicht so schnell. Es dauert sehr lang, bis sich ein Land aus solchen Gedanken befreit. Deutschland ist nach dem Ersten Weltkrieg widerfahren, was Russland in den Neunzigerjahren passiert ist. Für die Generation von Putin, der noch in Ostdeutschland diente, als die Sowjetunion ganz Zentralasien umfasste und die Westgrenze bei Erfurt und Eger war, stellte der Zusammenbruch der Sowjetunion die größte Katastrophe des 20. Jahrhunderts dar. Und das wollte er wiedergutmachen.

Sie glauben also, dass der Imperialismus tief verwurzelt ist in Russland.

Bevor Deutschland davon geheilt war, musste es erst einen entsetzlichen Weltkrieg verlieren. Russland hat sich seit dem 15. Jahrhundert ständig erweitert. Wie Václav Havel (Tschechiens Ex-Präsident; Anm.) einmal sagte: Die Tragödie Russlands ist, dass es seine Grenzen nicht kennt. Jede Imperialmacht muss eine große Niederlage erleben, bevor sie wieder zu normalem Denken zurückkehrt.

Wie kann der Ukraine-Krieg enden?

Der Krieg wird sich lang hinziehen. Bis eine Kriegspartei feststellt, dass sie nicht mehr kann. Vorher nicht.

Das heißt: Verhandlungen hätten im Moment keinen großen Sinn?

Es sei denn, es fände ein Staatsstreich in Moskau statt, was ich allerdings für höchst unwahrscheinlich halte.

Offenbar ist es Teil der ukrainischen Strategie, durch spektakuläre Angriffe maximale Unruhe in Moskau zu erzeugen.

Der Mut der Ukrainer ist gigantisch und verdient höchsten Respekt. Zwei Präsidenten, die die Geschichte verändert haben, fingen beide als Schauspieler an und füllten ihre Rollen erst danach als Politiker voll aus: Ronald Reagan und Wolodymyr Selenskij.

Inwiefern verändert Selenskij die Geschichte. Welche Auswirkungen wird der Krieg über die Ukraine hinaus haben?

Der Dekolonialisierungsprozess wird sich in der Russischen Föderation fortsetzen. Russland wird zerfallen. Große Teile werden sich, sobald sie können, selbstständig machen.

Ist das nicht ein Schreckensszenario?

Warum?

Weil der Zerfalls Russlands zu großem Chaos und Blutvergießen führen kann.

Es wird mühsam sein. Ich frage aber jene, die Chaos befürchten: Gönnen wir anderen Nationen nicht die Selbstständigkeit? In der Vergangenheit hat es immer wieder diese Idee gegeben, dass sich die kleinen Nationen gefälligst für die größeren opfern sollten. Ob das 1938 in München oder 1945 in Jalta war. Doch dieses Denken führt uns immer wieder in Katastrophen.

Sehen Sie denn Anzeichen für Zentrifugalkräfte in Russland?

Vor 40 Jahren hat auch nur eine einzige französische Politschriftstellerin den Zerfall der Sowjetunion vorausgesagt. Wir sind immer Opfer unserer eigenen Vorstellungen und Illusionen.

Sehen Sie, Stand jetzt, eine Möglichkeit, wie der Krieg in einer Verhandlungs- und Kompromisslösung enden könnte?

Manche meinen mit einem Kompromiss, dass die Ukrainer auf Gebiete verzichten. Diesen Ausdruck lehne ich ab. Das wäre kein Kompromiss, sondern eine Kapitulation.

Russland wird nicht von der Landkarte verschwinden. Wie können Russland und Europa wieder eine vernünftige Beziehung herstellen?

Wahrscheinlich wird ein langer Prozess notwendig sein, um zu einer Normalisierung zu gelangen. Aber es kann sich auch eine Wiederholung der Szenerie nach 1945 ergeben. Damals wurde Deutschland relativ schnell in den Westen integriert – groteskerweise dank Stalin. Wenn es Stalin nicht gegeben hätte, wären die Deutschen dem Morgenthau-Plan gemäß niedergedrückt worden. Mutatis mutandis kann ich mir vorstellen, dass nach einer Niederlage Russlands die Rettung sein wird, dass der Westen die Russen als Verbündete gegen China braucht.

Es schwirrt immer wieder die Idee umher, das neutrale Österreich könne eine Mittlerrolle spielen. Bundeskanzler Nehammer reiste im April unter anderem auch deshalb nach Kiew und Moskau.

Da soll man keine Illusionen haben. Das war ein Irrtum des Bundeskanzlers.

Hat die Neutralität für ein Land wie Österreich, das Mitglied der EU ist, überhaupt noch eine Funktion?

Ich fürchte, die Bedeutung ist reduziert. Vorderhand bleibt sie jedoch nützlich. Ich würde sie als österreichischer Politiker wahrscheinlich vorderhand behalten, insbesondere, wenn Russland einer Niederlage entgegensteuert. Es wäre keine gute Idee, in diesem Moment die Neutralität aufzugeben. Man soll nie jemanden treten, der am Boden liegt.

Schweden und Finnland schließen sich auch der Nato an.

Sie sind in einer anderen geostrategischen Situation.

Glauben Sie, dass die Nato jemals die Ukraine als Mitglied aufnehmen wird?

So Gott will, aber ich glaube es noch nicht.

Solang die Grenzen der Ukraine nicht geklärt sind, wird die Nato die Ukraine wohl nicht aufnehmen.

Umgekehrt wird es in den nächsten Jahren notwendig sein, ein sehr enges Bündnis zwischen der Ukraine und der Nato zu schmieden. Das ist in beiderseitigem Interesse.

Können Sie sich die Ukraine als Mitglied der EU vorstellen?

Selbstverständlich. Es wird Jahre dauern, bevor die Ukraine wirtschaftlich beitrittsreif ist und auch mit Missständen wie der Korruption aufgeräumt hat. Aber warum sollte die Ukraine danach nicht Mitglied der EU werden?

Weil es die Struktur der EU enorm belasten würde, ein derart großes Land wie die Ukraine aufzunehmen. Die Union müsste davor etwa ihre Agrarpolitik komplett ändern.

Es wird Jahre dauern. Aber vor 30 Jahren hat es auch für unmöglich gegolten, dass Rumänien Mitglied der EU ist.

Derzeit legt sich Österreich gegen einen Schengen-Beitritt Rumäniens und Bulgariens quer . . .

Blödsinn! Warum muss sich Österreich künstlich Gegner schaffen? Das ist eine reine Dummheit aus innenpolitischen Gründen.

Was haben Sie insgesamt für einen Eindruck von Österreichs Außenpolitik?

Im Prinzip ist sie gar nicht so schlecht und unvernünftig. Ich schätze Alexander Schallenberg.

Wie bewerten Sie im Rückblick Aufstieg und Fall von Sebastian Kurz?

Ich habe leider Gottes sehr früh den Eindruck gewonnen, dass Kurz ein falscher Fuffziger ist. Er war zweifellos hochbegabt, hat sich selbst aber total überschätzt und eine rücksichtslos egoistische Politik verfolgt, die in den Untergang geführt hat. Diese Zeit war eine Katastrophe für Österreich. Ich bin gespannt, ob sich die ÖVP von ihm erholen wird. Ich habe schon damals gesagt: Wenn Sebastian Kurz so endet, wie ich erwarte, kann das auch das Ende der ÖVP sein.

Einer jüngsten Umfrage zufolge ist das Vertrauen der Österreicher in die Parteien dramatisch gesunken . . .

Na wundert Sie das?

. . . und der Ruf nach einem starken Mann wird lauter.

Der Ruf nach einem starken Mann kommt dann immer. Gott sei Dank sehe ich keinen solchen in Österreich. Weder einen starken Mann noch eine starke Frau. Freuen wir uns darüber.

Apropos: Wird Ex-Premier Andrej Babiš nächster Präsident in Tschechien?

Ich hoffe nicht und glaube das, ehrlich gesagt, auch nicht. Babiš wird im Jänner sicher in die zweite Runde kommen. Doch das Sentiment „Jeder nur nicht Babiš“ wird dominierend sein.

Sie haben bei der Präsidenten-Stichwahl gegen Zeman verloren. Ist das immer noch eine offene Wunde für Sie?

Wenn ich mir anschaue, was passiert ist, kann ich nur wie der ehemalige Kaiser Ferdinand nach der Niederlage von Königgrätz 1866 sagen: „Na, des hätte ich auch noch z'sammbracht.“ Zeman ist ja im Prinzip hochintelligent und sehr belesen. Die Katastrophe war der Alkohol, der ihn total ruinierte. Wie bei allen Süchtigen verschwinden dann die Hemmungen. Seit vorigen Oktober ist Zeman aus gesundheitlichen Gründen gezwungenermaßen trockengelegt. Er hat sich seither so verändert. Vor zwei Monaten hat er mich zum Mittagessen eingeladen. Ich lernte einen anderen Zeman kennen – einen höchst kultivierten, höflichen Gastgeber und interessanten Gesprächspartner.

Zeman war lang ein Fürsprecher der Russen. Hatten sie ihn im Sack?

Unterschätzen Sie Zeman nicht. Aber die Russen haben ihm natürlich geschmeichelt, was wie auch bei Václav Klaus entsprechende Wirkung gezeigt hat. Als meine Mutter feststellte, dass es nicht zu verhindern ist, dass ich in die Politik gehe, sagte sie mir: „Vergiss eines nicht: Die ärgsten Verbrechen und Dummheiten der Politik sind nicht wegen Sex, Geld, ja nicht einmal wegen der Macht passiert, sondern immer nur aus Eitelkeit.“ Sie hatte recht.

Braucht man nicht ein gewisses Maß an Eitelkeit, um die politische Bühne zu betreten?

Vielleicht bin ich auch eitel.

Ihre Tochter hat einen Film („Mein Vater, der Fürst“) über Sie gedreht. Das war sicher nicht leicht für Sie, denn Sie werden darin ausgiebig dafür kritisiert, als Vater zu distanziert gewesen zu sein.

Ich werde aufgeblattelt. Aber ich habe gefunden, wenn wir den Film machen, dann soll er ordentlich gemacht sein. Ich wollte, dass Lila eine Chance hat. Ich bin sehr stolz auf meine Tochter.

Steckbrief

1937
Karl Schwarzenberg wird am 10. Dezember in Prag geboren. 1948, nach der Machtüberübernahme der Kommunisten, muss er mit seiner Familie aus der Tschechoslowakei nach Österreich fliehen.

1990
Der Adelige wird ein paar Monate nach der Samtenen Revolution in Prag Leiter der Präsidentschaftskanzlei von Václav Havel.

2007
Die Grünen nominieren Schwarzenberg als Außenminister im Kabinett Topolanek. 2009 wird er Chef der liberalen Partei Top 09. Ein Jahr später bekleidet er abermals das Amt des Außenministers – bis 2013. Russland hat 2015 ein Einreiseverbot gegen ihn verhängt.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 18.12.2022)

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