Interview

Robert Menasse: "In meinem Bekanntenkreis wählt niemand mehr Grün"

Robert Menasse
Robert Menasse(c) Jana Madzigon
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Der Schriftsteller erklärt, in welcher Hinsicht ihn die Corona-Politik an Wiederbetätigung erinnerte, warum er die EU als sinkendes Narrenschiff und Österreichs Medienreform als Demokratiezerstörung sieht.

In Ihrem neuen Roman „Die Erweiterung“ sind ein paar Figuren klar realen Persönlichkeiten zuzuordnen – unter anderem der albanische Ministerpräsident, dessen politischen Stil Sie im Roman als sehr unkonventionell und kreativ zeichnen. Wissen Sie schon von Reaktionen des realen Ministerpräsidenten Edi Rama?

Er ist, so höre ich aus seinem Beraterstab, hochzufrieden, fühlt sich in seinem Wesen erfasst, kann sich aber vorstellen, dass der polnische Ministerpräsident eine polnische Übersetzung verhindern will.


Der kommt ja auch vor, wenig schmeichelhaft. Aber nicht nur das Bild polnischer, sondern überhaupt europäischer Politik ist im Roman bei allem Witz tief erschütternd. Warum verströmt das Buch dennoch im Vergleich zu Ihrem vorigen EU-Roman „Die Hauptstadt“ mehr Leichtigkeit? Schleicht sich Altersmilde ein?

Eher zunehmende Altersapathie, die man mit Milde verwechseln kann. Ich leide unter Schwermut, und wenn ich mich mit meiner Zeitgenossenschaft auseinandersetze, muss ich aufpassen, dass ich nicht schwer deprimiert werde. Aber ich habe mir beim Schreiben immer wieder gedacht, ich muss die Schwermut verstecken. Verblüfft hat mich, dass einige den Roman als Satire auffassen. Selbst das Komische hier ist ja nur die komische Seite des Tragischen. In der politischen Realität sehe ich ununterbrochen Situationen, wie ich sie schildere. Denken Sie an das Video, in dem die Kommissionspräsidentin vorführt, wie man richtig Hände wäscht. Das ist tragikomisch. Und höchste Politik.


Albaniens Regierungschef, der sich im Roman etwas einfallen lassen muss, weil EU-Länder die Beitrittsverhandlungen blockieren, greift auf die aberwitzigen Ideen seines Dichter-Beraters Fate Vasa zurück. Dachten Sie bei dem kuriosen Gespann an die Tradition von Herrscher und Hofnarr?

Natürlich greife ich diese Tradition auf. Außerdem sind Dichter, die mit Allegorien und Metaphern arbeiten, als Symbolspezialisten interessant für Herrschende, die zunehmend von Symbolpolitik leben. Das ist die politische Krankheit unserer Zeit. In Westeuropa gibt es zwei Typen von Politikern oder Politikerinnen. Der eine Typus will gestalten, ist aber mit so viel Blockaden konfrontiert, dass er es nicht kann. Also rettet er sich in Symbolpolitik, um wenigstens den Anschein von Bewegung zu erwecken. Das ist der Typus Macron. Der andere Typus lässt ständig symbolpolitische Versuchsballons aufsteigen, weil er nichts will als das Amt. Das ist der Typus Kurz, der in abgeschwächter Form in der europäischen Politik noch stark vertreten ist, da braucht man den Kanzler selbst gar nicht mehr. Auch symbolhafter Pragmatismus gehört dazu: Man macht etwas und benennt es mit dem Gegenteil.


Zum Beispiel?

Man will jetzt keinen radikalen Ausstieg aus der fossilen Energie, weil man sich nicht vorstellen kann, wie das ohne wirtschaftlichen Zusammenbruch gehen soll. Man setzt also ein Jahr weit in der Zukunft fest, bis dahin soll es gelungen sein. Dann setzt man ein Gremium fest, das bestimmt, was unter den jetzigen Bedingungen als Ausstieg aus der fossilen Energie und als „grün“ zu gelten hat. Und da gehört dann polnische Kohle dazu.


Würden Sie, wie es Ihr Dichter Fate Vasa tut, Politiker konkret beraten wollen?

Ich möchte nie in die Lage kommen, einen Politiker zu beraten. Kritisieren finde ich notwendig für einen Citoyen. Gerade überlege ich, über das skandalöse Verhalten der Grünen im Hinblick auf das neue Mediengesetz zu schreiben. Öffentlich-rechtliche Medien und Qualitätsmedien sind das Um und Auf einer Demokratie. Wer sie zerstört, soll sich nie wieder einer Wahl stellen. Und ich bin hundertprozentig überzeugt: Wenn die Grünen nicht stoppen, was in der Gesetzesvorlage geplant ist, werden sie zu Recht aus dem Parlament fliegen. Weil sie vergessen, dass die, die sie gewählt haben, wissen, was Demokratie ist. In meinem nicht allzu kleinen Bekanntenkreis wählt zum Stand der Dinge niemand mehr Grün. Niemand.


Nochmals zurück von österreichischer zu europäischer Politik: Kann es sein, dass die viel zitierten europäischen Werte zum Teil außerhalb der EU noch ernster genommen und mehr geschätzt werden als im Inneren, wo sie unbemerkt erodieren?

Aus genau dem Grund sagt ja eine Figur in meinem Roman, sie habe den Eindruck, die Nicht-EU-Mitglieder würden die bessere EU bilden! Es ist interessant, dass Albanien radikal und konsequent europäisches Recht implementiert, als Vorleistung für einen künftigen Beitritt, während das Mitglied Polen europäisches Recht bricht. In Albanien gewinnt man Wahlen nur, wenn man die Perspektive eines EU-Beitritts bietet, in Polen hingegen gewinnt man Wahlen mit Kritik an Brüssel. Von außerhalb sieht man die EU als großen gemeinsamen Rechtszustand, der Chancen bietet, da wird das Gemeinsame gesehen. Gleichzeitig sind die Nationalstaaten die Basis der EU geblieben, das ist gegen ihre Idee und blockiert ihr Funktionieren. Wenn Politiker, die auch europapolitische Verantwortung haben, Entscheidungen nur im Hinblick auf innenpolitische Reaktionen treffen, ist das mehr als zynisch, es ist gemeingefährlich. Damit hat auch das Schlusstableau meines Romans zu tun. Ich fürchte, die multiplen Krisen, die wir jetzt erleben, werden in einer Weise wachsen, dass in absehbarer Zeit bei Gefahr des sonstigen Untergangs Entscheidungen getroffen werden müssen, die man jetzt gleich treffen könnte. Die aber jetzt nicht möglich sind.


Sie sehen das Nationale als das zu Überwindende. Was halten Sie also davon, dass seit Beginn des Ukraine-Kriegs europäische Solidarität für den ukrainischen Staat oft mit einer romantischen Sicht auf die ukrainische Nation einhergeht?

Die Ukraine war ein Staat in Konstruktion. Durch den nationalistischen Überfall Putins wird sie eine Nation in Konstruktion, das ist ein Treppenwitz der Geschichte. Sie wollte sich auf den Eintritt in die nachnationale Entwicklung der EU vorbereiten. Jetzt ist sie gezwungen, einen emphatischen Nationalismus zu entwickeln, den es vorher in dem komplexen Gebilde gar nicht geben konnte. Das ist eine irrwitzige historische Dialektik. Aber diese Frage ist jetzt sekundär, mit ihr werden wir uns auseinandersetzen müssen, wenn der Krieg vorbei ist. In dem Moment, in dem die Menschen in der Ukraine für sich beschließen, sich zu wehren, werden Heldensagen geschrieben, die in der Regel die Grundlage für Identität sind. Ich glaube, es geht derzeit nicht anders. Mitsamt allen Dummheiten. Wenn zum Beispiel ernsthaft darüber diskutiert wird, ob man noch russische Literatur lesen oder russische Künstler auftreten lassen kann. Ich verstehe die Emotion, aber es ist grottendumm.


Schon vor dem Krieg hat die Pandemie vielen das Gefühl gegeben, in einer Dauerkrise zu leben. Wie haben Sie das erlebt?

Für mich hat ein permanenter Krisenmodus viele Jahre früher begonnen, 2020 kam einfach mit dem Beginn der Corona-Pandemie noch was dazu. Wenn ich jetzt daran zurückdenke, fällt mir immer nur ein Satz ein: „Die nächsten zwei Wochen werden entscheidend!“ Woran sich alle jetzt erinnern, ist – da war unglaubliche Bewegung in der Politik. Für mich war das ein politischer Veitstanz, der auch von der Unfähigkeit in anderen Politikfeldern abgelenkt hat. Was überhaupt nicht bedeutet, dass ich die Gefahr von Corona leugne, ich habe sie sehr ernst genommen, zwei gute Bekannte sind gleich zu Anfang der Pandemie in der Blüte ihrer Jahre gestorben. Aber halten Sie sich vor Augen: Man kann in Österreich keine Schneekanonen verbieten, weil sie den Tirol-Tourismus schädigen würden. Man kann aber verbieten, dass Vater, Mutter, Kind die Oma besuchen. Übrigens sollte in einem Land, das Faschismen erlebt hat, der Begriff Volksgesundheit unter den Wiederbetätigungsparagrafen fallen. Ich habe mir mit der Zeit auch immer öfter gedacht - kann man bitte in der Corona-Politik mehr an die Eigenverantwortlichkeit appellieren? Ich bin geimpft und niemand hindert mich, in U-Bahn und Supermarkt eine Maske aufzusetzen. Ich glaube, auf diese Weise gut geschützt zu sein, die Entscheidung anderer ist deren Entscheidung. Die Corona-Pandemie war ein Desaster im Hinblick auf die Möglichkeit von Eigenverantwortung.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 07.11.2022)

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