Monika Helfer hat für die Weihnachtsausgabe des „Spectrum“ eine Erzählung geschrieben: Was für eine Unordnung in dieser Geschichte. Da muss doch eine Ordnung her. Da müssen die Hungrigen an den Tisch, die Schmutzigen in den Waschraum, die Kranken in die Betten. Die Geisterblassen zum Eingang.
Der feuchte Dunst findet den Weg in die Häuser. Die Kälte stiehlt sich herein, während sie schlafen, die Kälte ist stumm. Die Kälte ist unsichtbar und geruchlos. Sie haben alles angezogen, was sie an Kleidern besitzen, Unterwäsche, Pullover, Röcke, Hosen, Socken, drei Paar Socken, vier Paar Socken. Sie kriechen unter die feuchte Decke. Wie kann man sich warm machen. Frauen drängen sich in der Küche. Sie schalten die Herdplatte ein und halten ihre Hände darüber, eine Frau ihren Säugling. Der Vermieter kommt, schimpft über ihre Verschwendung, mahnt zum Sparen und dreht die Herdplatte auf null. Kinder schreien, sie haben Rotznasen und verfilzte Haare, niemand kümmert sich um sie. Das Licht geht an. Das Licht geht aus. Es gibt noch Reste vom Rosinenkuchen. Sie streiten sich darum. Einer hat die Rosinen aus dem Kuchen gepickt. Der alte Mann beißt in eine Zwiebel. Es gibt im Keller Kartoffeln, die müssen weich gekocht werden.
Die Presse zum Hören
Von einer einzigen Kartoffel wird man nicht satt. Sie finden eine Flasche Wodka, und jeder bekommt einen Schluck. Die dicke Frau mit dem Turban überwacht alle. Kinder dürfen auch einen kleinen Schluck nehmen. Davon wird einem warm. Aber doch nicht von so wenig. Am liebsten würde sie die ganze Flasche austrinken. Draußen hat es zu schneien begonnen. Wenn man Schuhe anzieht, passen nur ein Paar Socken, sonst sind die Schuhe zu eng. Wenn es in den Schuhen zu eng wird, friert man noch mehr. Kinder finden Haferflocken und kauen sie roh. Sie trinken Wasser dazu. Katzen drücken sich an Hosenbeine. Die Gefleckte hat eine Maus gebracht. Hört das denn nie auf! Eine Frau sagt zu ihrer Nachbarin, wenn das alles vorbei ist, lasse ich mir die Haare schneiden. Ich kann das machen, wenn du eine Schere findest, sagt die Nachbarin, jetzt aber nicht, meine Hände sind steif von der Kälte. Ein Kind hat Bauchweh von den Haferflocken. Die Toilette ist verstopft. Wer räumt den Dreck weg. Der Vermieter ist fort, und so können sie kurz das Backrohr aufdrehen und sich davor hinsetzen. So wenig Platz! Geh weg, ruft die eine, ich war noch nicht dran. Sie hören Schritte. Schnell aus mit dem Backrohr.
Wer erfriert zuerst. Wenn morgen zur Mittagszeit die Sonne scheint, können sie sich an die Hauswand drängen. Ein wenig aufwärmen. Ich möchte so nicht mehr weiterleben, weint ein Mädchen, und ihr wird gesagt, sie soll die Klappe halten. Kinder husten. Eines hebt die schwarze Katze auf und drückt sie an seine Brust. Sie will nicht bleiben. Sie will sich mit der Gefleckten um die Maus streiten.
Schnee fällt. War er rosa, war er veilchenfarben? Zerbeult der Himmel. Da waren Spatzen, da waren Krähen. Sie finden ihre Würmer. Hier bellen Füchse. Bellen Füchse? Luise schält eine Orange. Wo hat sie die her? Gebt den Kindern Malkreiden. Es gibt kein Papier. Sollen auf dem Asphalt malen.
So viele Muttersprachen! Glanz und Glut. Wirrsal.
Alles muss weg, sagt der Vermieter, morgen kommt ein Bus, der euch fortbringt, dann muss hier sauber sein. Pest über die Weiber! Sie fangen an, alles fortzuräumen auf einen Haufen an der Steinwand. Zu Mittag, wenn die Wintersonne scheint, könnten sie ein Feuer machen. Strohmatratzen verbrennen, wenn es dann lodert, bald weht dichter Rauch, der blinde Mann, gehüllt in eine Steppdecke greift nach einem Stück Kohle und wirft sie ins Feuer, aber es war die schwarze Katze, und sie schrie nur kurz, und der Himmel war ein riesiges Federbett, die Wolken Wale. Eine Anhäufung von wild zusammengegriffenen Gegenständen. Darf man ein Kreuz in die Glut werfen? Alles, was gut brennt, ich würde meinen Brautschleier opfern. Es kann besser werden, sagt die Frau im Pelz, wichtig ist nur, einen Platz im Bus zu ergattern und kein Geschrei zu machen. Ich werde mich diesmal nicht verkaufen, sagt das Mädchen, letztes Mal hat es auch nichts genützt, schamlos zu sein, bringt nichts. Sie lächelt und weint. Da ist noch Bier ruft ein Mann vom Keller herauf, das trinken wir, ehe es verdirbt. Also schlagen sie die Hälse von den Flaschen und trinken bis zum größten Rausch. Das Feuer verglost. Am Morgen würden sie verkatert sein und sich wie Automaten in den Bus setzen.
Als dann der Bus kommt, sehen sie, dass er klein ist, und niemals alle aufnehmen kann, auch wenn sie übereinanderlägen. Die Alten setzen sich, und die Jungen setzen sich auf die Alten, Kinder kauern auf dem Boden. Der Fahrer drängt sich ans Steuer. Sie fahren holterdiepolter, wohin, weiß keiner, besser ist es überall. Ein Gelehrter liest aus einem Pergament. Das tröstet. Sie wissen nicht, was sie sind, und sie wissen nicht, was sie einmal waren. Brave Mütter und Väter und folgsame Kinder. Schlussendlich hält der Bus, und sie purzeln heraus, das sieht lustig aus und verletzt viele. Sie sehen Häuser mit Gärten am Wegrand und hoffen, sie werden dorthin verfrachtet. Sie kämmen sich gegenseitig die Haare und verschönern sich.
Die Kälte ruht noch
Ich bin nur ein armer Wandergesell, singt der Bursche mir der Igelfrisur. Seine Stimme ist schlecht. Niemand kennt das Lied, und weil niemand einstimmt, verstummt der Bursche. Sie sammeln sich zu einer ordentlichen Prozession und gehen auf das vergoldete Haus zu. Es bewegt sich ein leiser Wind. Die Kälte ruht noch. Dann Hurrikan, Zyklon, Orkan und Tornado. Alles flieht. Die Flut verursacht zudem Schäden in Milliardenhöhe. Expertinnen und Experten rechnen wegen des Klimawandels mit einer Häufung extremer Wetterereignisse.
Sie hören Hundegebell, und uniformierte Männer kommen gesprungen, sie nehmen sich die schönsten Mädchen. Die dürfen ins Haus, aber nur in den Vorraum. Derweil die Gewöhnlichen, die Hässlichen, die Alten, die Schwachen auf dem kältestarren Boden kauern und fluchen. Zwei hat man beten hören.
Die Männer in den schmierigen Uniformen drücken sich an die Mädchen und greifen ihnen unter die Röcke. Eine nimmt die scharfe Schneiderschere und bohrt damit in den Männerbauch. Der fällt um, und keiner weiß, warum. Man lässt ihn liegen und bewegt sich fort. Die Haustür wird geöffnet, und warme Luft strömt.
Menschen lösen sich aus der Prozession, sie haben Messer unter dem Gewand, und es gelingt ihnen, die Soldaten zu verletzen, sodass sie hinfallen und den Schnee blutig machen. Sie lassen sie liegen und kehren in den Bus zurück, der auf der Straße festgefrorenen parkt. Kaninchen rennen aus dem Feld, und der Bursche mit der Stachelfrisur ist so geschickt, eines oder zwei zu fangen und zu schlachten und zu braten. Es wird gefeiert. Ohne Salz schmeckt das Essen nach Nahrung. Der Geist der Zeit überdauert, sagt der Blinde und nagt an seinem Knöchelchen. So lange die Frau nur auf Zettelchen schreibt, besteht keine Gefahr.
Wartet nur, bis der Heilige Tag kommt, dann besinnen sich die Menschen in den Häusern und wollen Gutes tun, nur für einen Eintrag in das Himmelsregister. Aber wir werden es zu nützen wissen. Schon kommen die sauberen Menschen aus den vergoldeten Häusern, und jeder von ihnen nimmt aus dem Bus einen Erbärmlichen, ob Frau, ob Kind, ob Mann. Je elender, umso besser. Güte wird dem vermeintlichen Retter geglaubt. Eine Frau in einem Persianer wickelt sich aus ihrem Pelz und legt den Säugling hinein, den sie von der Brust der Mutter gerissen hat. Das winzige Kind weiß nichts. Es kommt in ein geheiztes Haus und wird in warmem Öl gebadet, dass es glänz wie ein Diamant. Auf das feinste Tuch legt es die Frau, und sie ruft nach ihrem Mann, dass er sich erfreue über ihr Geschenk. Der Säugling liegt mitten auf dem Tisch und schläft. Soll keiner denken, dass er eine Speise ist. Als die Suppe aufgetragen wird, schlummert er immer noch, beim Hauptgang mit Fasan und Blaubeeren wacht er auf und schreit schrill. Derweil schwankt die Mutter um das Haus und beklagt den Verlust ihres Kindes.
Was für eine Unordnung in dieser Geschichte. Da muss doch eine Ordnung her. Da müssen die Hungrigen an den Tisch, die Schmutzigen in den Waschraum, die Kranken in die Betten. Die Geisterblassen zum Eingang. Da muss doch das viele Geld verteilt werden. Einer muss da sein, der das Finanzielle in die Hände nimmt. Einflussreich und schmeichelhaft. Gib her das blutbefleckte Heft! Den Kindern müssen die Euros in die Röcke eingenäht werden, damit sie ihnen die Eltern nicht wegnehmen. Tick, tack machen ihre Herzlein. Zum Schein soll der Mann auf das Bild, kann nachher wieder bei seiner Schickse betrügen. Zur Scheidung fehlt uns das Geld. Wehe, er macht ihr ein Kind, dem wünsche ich Eselsohren. Ihm wünsche ich die Affenpocken. Knötchen, Bläschen, Pusteln, Wunden und Schorf.
Ich schlage vor, der fromme Mann soll die Sache in die Hand nehmen. Er ist zwar sehr schwach, muss deshalb von braven Frauen gestützt und unterstützt werden. Ein Senfpflaster unter die Füße. Erst schlage ich vor, soll man ihm eine Hühnersuppe offerieren. Erholt und frisch, soll er sich in einem nicht allzu weichen, sehr bequemen Bettpalast anlehnen. Jeder Einzelne soll vortreten und seine Bitten vorbringen. Das unglaublich viele Geld liegt in Scheinen in einer Kiste unter der Bettdecke. Spenden. Wer weiß, ob er sich da nicht einiges unter den Nagel reißt.
Was soll der Fromme mit Geld? Was soll er mit einem Hemd aus Paduaseide, im Knopfloch eine Nelke? Dem Frommen wird alles geschenkt, auch von Menschenkindern, die nichts haben. Er empfängt die Bittsteller in seinem Bettpalast.
Ich frage mich, warum ist keine Frau in dieser Position? Ich sage es dir. Weil sie zu viel nachdenkt. Frau Inspektor hat sich etabliert. Spitzenposition in einer hierarchischen Struktur.
Soll nicht heißen, dass dieser fromme Mann nichts im Oberstübchen hat. Schließlich hat er sich fünfzig Jahre schon bewährt. Hat Zartgefühl gezeigt. Hat Geld gesammelt und Kranke besucht, den Sterbenden die Sakramente erteilt. Wollt ihr wissen, wie er vorher gelebt hat? Es gibt Gerüchte, man weiß nichts Genaues. Jedenfalls segnet er mit zitternden Händen.
Der Nächste bitte! Sprich!
Die Bittstellerin bringt Honig als Geschenk.
„Dazu brauchen Sie keine Zähne, Vater.“
„Sag an, was ist dein Kummer?“
„Ich sinne auf Rache! Wenn es dir möglich ist“, sagt die Frau mit verweintem Gesicht, „töte den, der mir das angetan hat.“ Sie hält ihre Hand auf ihr Geschlecht. „Töte ihn so grausam wie möglich, ich denke dabei an den Scheiterhaufen. Ohne Brandbeschleuniger. Lass die Vergewaltiger töten! Sie müssen leiden. Warte mit dem Anzünden, es kommen garantiert noch welche dazu.“
„Und was willst du für dein Heil?“, fragt der fromme Mann.
„Wenn du mir die Rache führst“, sagt sie, „ist das mein Heil.“ Sie verbeugt und bekreuzigt sich.
Folgende Bitten betreffen materielle Nöte, die der fromme Mann mit Geld zu beschwichtigen sucht. Er greift mit der Greisenhand in den Geldspeicher.
Mutlose betteln um Arzneien. Nicht heilende Wunden, Vater, nichts hilft, was kann ich tun? Seelenschmerzen sind so verschlungen, so kompliziert.
„Ich brauche eine Denkpause!“
Was geschieht mit den geschundenen Mädchen? Kann man sie noch verheiraten. Wollen sie das? Wollen sie tun, als sei nichts geschehen. Wollen sie in fremde Länder ziehen und so tun, als wären sie rein?
Der Scheiterhaufen wird aufgebaut, gefesselte Menschen stehen reihum, sie stimmen ein Reuelied an, es nützt ihnen rein gar nichts. Die Flammen züngeln sich von den Füßen hinauf bis ins Hirn, und Asche wird. Wildschweine gehen auf die Meute los, aber nur, weil sie den Nachwuchs beschützen wollen.
Indessen steigt die Sonne auf und füllt das Zimmer mit Orange, und der fromme Mann weiß, die Wahrheit ist mit Lügen vergiftet.
„Ich verliere alle Illusionen“, sagt er und klappt den Geldspeicher auf. Sollen Diebe kommen und stehlen, ihn schreckt es nicht, sollen Diebe sich beim Verteilen des Geldes totschlagen, ihn schreckt es nicht. Er legt sich auf das Kissen und schließt die Augen, hat keine wahrnehmbare Atmung bis in alle Ewigkeit.
Monika Helfer
Geboren 1947 in Au/Bregenzerwald, lebt als Schriftstellerin in Vorarlberg. Für ihre Arbeiten wurde sie unter anderem mit dem Robert-Musil-Stipendium und dem Österreichischen Würdigungspreis für Literatur ausgezeichnet. Zweimal war sie für den Deutschen Buchpreis nominiert. Zuletzt erschien von ihr der Roman „Löwenherz“ bei Hanser.
("Die Presse", Print-Ausgabe, 24.12.2022)