Glosse

Sind die Lehrpläne wirklich unleserlich?

Unleserlich oder unlesbar? Eine Frage für "Oberlehrer".
Unleserlich oder unlesbar? Eine Frage für "Oberlehrer".Die Presse, Clemens Fabry
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Die Lehrervertreter meinten wohl eher: unlesbar. Was ist der Unterschied?

Ob in Österreich oder anderswo, ob nach dem Humboldt'schen Bildungsideal oder dem des Lehrers Lämpel, wo gelehrt wird, dort braucht es Lehrpläne. Neue solche sind nun in Österreich erlassen worden. Das erfuhr man soeben in der Austria Presse Agentur, grübelte kurz darüber, ob Lehrpläne in dem Sinn erlassen werden können, in dem etwa einem Schüler eine Strafaufgabe erlassen wird, und stieß dann auf eine zusätzliche Information: Die Lehrervertreter hätten die Lehrpläne in der Begutachtungsphase kritisiert, weil sie „unleserlich verfasst“ gewesen seien.

Haben sie das wirklich? Eine kurze Recherche ergibt: Die Formulierung ist aus dem September 2022. Sie stammt also wohl tatsächlich von Lehrervertretern, unter denen aber gewiss die Deutschlehrervertreter unterrepräsentiert waren. Denn solche hätten den Rotstift gezückt und gezischt: „Ein handschriftlicher Text mag unleserlich sein; ein Text, dessen Sinn sich nicht erschließt, ist aber nicht unleserlich, sondern unlesbar!“

Was man alles lesen kann

Die Verwechslung ist aber interessant. Vor allem, wenn man bedenkt, dass das Wort „lesen“, das einst so viel wie „sammeln“ bedeutet hat, heute wieder vermehrt für Nichtschriftliches verwendet wird. Etwa in der Formulierung, dass eine Person unabhängig von ihrem biologischen Geschlecht bestimmen könne, ob sie als männlich oder weiblich gelesen werden soll. Wer sich bei dieser Lektüre irrt, kann wohl sagen, er habe sich verlesen. Und wenn er völlig daran scheitert? Sagt er dann richtigerweise, dass die Person für ihn unleserlich oder dass sie unlesbar ist?

Der Unterschied ist gewiss fein, ein Vorschlag: Unleserlichkeit liegt im Auge des Betrachters und im Äußeren des Betrachteten, Unlesbarkeit in beider Geist. „The book I read was in your eyes“, heißt es in einem Song der Talking Heads. Wenn dieses Buch unleserlich ist, hilft eine Brille oder ein Wimpernschlag; wenn es unlesbar ist, dann stimmt, wie die Psychologielehrer sagen, die Chemie nicht. Da kann man dann nur mehr die Scherben auflesen, der Beziehung nämlich.

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