Außenminister Jaishankar über die neue Weltordnung, den Ukraine-Krieg und die chinesische Herausforderung. „Keine Region wird stabil sein, wenn sie von einer einzelnen Macht dominiert wird."
Die Presse: Ändert sich vor unseren Augen gerade die Weltordnung?
Subrahmanyam Jaishankar: Absolut. Bei allen Unterschieden waren sich schon Barack Obama und Donald Trump einig, dass die USA nicht mehr dieselbe Rolle auf der Weltbühne spielen können wie früher und sich zurückziehen müssen.
Und Europa?
Unserer Wahrnehmung nach hat Europa nach Ausbruch der Finanzkrise 2008 eine defensive Haltung gegenüber der Welt eingenommen. Europa wollte sich vor allem in seinem eigenen Raum entwickeln und internationale Probleme so weit wie möglich von sich fernhalten. Europa fokussierte sich auf den Handel, betonte den Multilateralismus und nützte seinen wirtschaftlichen Einfluss, um die Welt bei Themen wie Klimawandel und Menschenrechten nach seinen Vorstellungen zu formen. In harte Sicherheitsfragen wollte Europa eher nicht involviert werden.
Wie kann die plattentektonische Verschiebung im Machtgefüge der Welt gemanagt werden? Die Geschichte zeigt, dass solche Phasen sehr gefährlich sein können.
Wir leben bereits in gefährlichen Zeiten. Dieser Übergang zur neuen Weltordnung wird lang dauern. Denn der Wandel ist groß. Die Amerikaner haben am schnellsten erfasst, dass sie sich neu positionieren und die Zusammenarbeit mit Ländern wie uns suchen müssen. Die Europäer brauchten einen Weckruf, um zu verstehen, dass sich nicht immer andere um die schwierigen Seiten des Lebens kümmern. Diese Erkenntnis setzte schon vorm Ukraine-Konflikt ein. Als die Europäer über eine Indopazifik-Strategie zu reden anfingen, war mir klar, dass sie nicht länger nur Zuschauer von Entwicklungen in anderen Teilen der Welt sein wollen.
Wie erschüttert der Ukraine-Krieg die internationale Ordnung?