Die Maske der „Unbekannten aus der Seine“ hing in unzähligen Wohnungen und inspirierte Künstler und Autoren. Doch handelte es sich wirklich um eine Pariser Ertrunkene? Die Zweifel mehren sich.
Ihre Augen sind geschlossen, ein leichtes Lächeln umspielt die Lippen in dem ebenmäßigen Gesicht: Die „L'inconnue de la Seine“, die Unbekannte aus der Seine, ist schön, und sie wirkt friedlich, auch wenn ihre Geschichte es nicht ist. Das Gesicht soll das eines Mädchens sein, vielleicht 16 Jahre alt, Ende des 19. Jahrhunderts leblos aus der Seine gefischt. Möglicherweise eine Selbstmörderin. Weil niemand wusste, wer sie war, soll ihr lebloser Körper ausgestellt worden sein – in der Leichenhalle in Paris, direkt hinter der Kathedrale Notre Dame. Die Toten wurden dort auf zwölf schwarzen Marmorplatten in den Schaufenstern präsentiert, damals eine gern besuchte Attraktion.
Dann, so geht die Geschichte weiter, habe ein von ihrer Schönheit faszinierter Pathologe eine Totenmaske des Mädchens angefertigt. „Zwischen den Toten- und Lebensmasken berühmter Männer wie Beethoven und Oliver Cromwell“ sei das Gesicht sofort aufgefallen, schreibt der „Guardian“. Bald gab es Fotografien und Replikate der Maske. Die Gipswerkstatt Lorenzi in der Rue Racine 19 soll mit der Massenproduktion begonnen haben. Viele Menschen hängten das morbide Antlitz in ihre Wohnungen – und die Künstler der Pariser Boheme ließen sich von ihm inspirieren. Albert Camus beschrieb das Lächeln einmal als das einer „ertrunkenen Mona Lisa“.

Schon 1899 wurde die geheimnisvolle „Inconnue“ erstmals in einem Werk erwähnt, in Richard Le Galliennes Roman „Worshipper of the Image“. Ein junger Poet wird darin vom Abbild einer Toten verzaubert und geht zugrunde. Gut zehn Jahre später schwärme der Protagonist im einzigen Roman des Lyrikers Rainer Maria Rilke, „Die Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge“: „Der Mouleur (Formgießer, Anm.), an dem ich jeden Tag vorüberkomme, hat zwei Masken neben seiner Tür ausgehängt. Das Gesicht der jungen Ertränkten, das man in der Morgue abnahm, weil es schön war, weil es lächelte, weil es so täuschend lächelte, als wüsste es.“
Ein Diplomat soll sie verlassen haben
Eine unglückliche Romanze, was sonst, dichtete dem Mädchen der deutsche Botaniker und Schriftsteller Reinhold Conrad Muschler an – in seiner so erfolgreichen wie einflussreichen, wenngleich heute vergessenen Novelle „Die Unbekannte“. Eine Provinzwaise verliebt sich in einen Diplomaten, doch der verlässt sie und sie geht ins Wasser, „ihr Antlitz lächelte verklärt, als man sie fand“. Im selben Jahr schrieb Vladimir Nabokov, möglicherweise von Muschlers Text beeinflusst, ein Gedicht über „Inconnue“. Die Novelle wurde auch verfilmt, als „Die Unbekannte“ von Frank Wisbar. Man Ray versuchte ab 1945 in Fotografien der Maske Leben einzuhauchen und legte sie etwa in ein Bett, als wäre sie eine Schlafende.
Eine Komödie schrieb Ödön von Horváth über das Gesicht, inspiriert von einer Geschichte seiner engen Freundin, der Schauspielerin und Autorin Hertha Pauli. Er wollte „Die Unbekannte aus der Seine“ (1933) darstellen, wie sich das Schicksal „der Selbstmörderin, deren Totenmaske ja allgemein bekannt ist und von deren Tragödie man nie etwas erfahren hat, abgespielt haben kann“, schrieb er. In dem Stück wird die junge Frau Augenzeugin eines Raubmords und geht in die Seine, weil sie in den Verbrecher verliebt ist. Beweisvernichtung als Liebesbeweis quasi.