Wie Staatsversagen die große Rezession verursacht hat

Staatsversagen grosse Rezession verursacht
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Gier ist zeitlos und universell – sie liefert daher keinen Aufschluss darüber, warum die Finanzkrise gerade jetzt und gerade so ausgebrochen ist. Aber das Zusammenwirken sechs staatlich ausgelöster Phänomene kann das Timing und die Schwere der US-Bankenkrise erklären.

Um die aktuelle Bankenkrise erklären zu können, muss man einen überraschenden historischen Vergleich ziehen: Während der Zeit von 1875 bis 1913 – einer Periode starken Wachstums des Welthandels und der internationalen Kapitalflüsse, vergleichbar mit den drei letzten Jahrzehnten – gab es weltweit nur vier Bankenkrisen (wenn man „Bankenkrise“ definiert mit einem Verlust von einem Prozent des BIPs eines Landes durch Bankpleiten und systemische Verluste). Aber in der Zeit von 1978 bis 2009, einer Periode viel weitergehender Regulierung, mit Zentralbankinterventionen, staatlicher Einlagensicherung und staatlicher Aufsicht über die Hypothekenmärkte, gab es weltweit 140 Bankenkrisen. Zwanzig davon waren – gemessen am BIP-Verlust – schwerer als jede einzelne der Krisen von 1875 bis 1913.

Führende Finanzwirtschaftler wie Charles Calorimis haben argumentiert, dass zu den notwendigen Bedingungen einer Bankenkrise eine Politik gehört, die die Mikro-Anreizsysteme der Banken durcheinanderbringt. Und Richard Posner von der Universität Chicago hat festgestellt, dass Banken, die in der aktuellen Krise ins Straucheln kamen, einfach „Risken eingingen, die in ihrem Umfeld angemessen schienen“.

Aber warum brach die Bankenkrise nicht früher aus – etwa in den Rezessionen 1990/91 oder 2000/01? Was ist in den letzten Jahren passiert, das zu einer Risikofreudigkeit geführt hat, die den Immobilienmarkt, das US- und das weltweite Bankensystem so schwer erschüttert hat? Und warum wurden Vorsichtsregeln bei Kreditkarten- und Gewerbeimmobilien-Pfandbriefen weitgehend beibehalten, während sie bei Wohnbau-Wertpapieren völlig aufgegeben wurden?

Wir haben eine verheerende Mixtur von sechs wesentlichen staatlichen Eingriffen identifiziert, die gemeinsam das kurzsichtige kollektive Eingehen unvernünftiger Risken belohnt und langfristige Geschäftsentscheidungen bestraft haben.


1.Schlechte Risikoregeln. Schlechte Regeln für das Bankgeschäft – vor allem die US-Adaption der Basel-II-Kapitalvorschriften – und die Regeln für das Outsourcen der Risikobewertung in staatlich sanktionierte Ratingagenturen haben Anreize dafür geschaffen (und nicht bloß zugelassen), dass Banken hochverzinste Immobilienanleihen geschaffen und gehortet haben, wobei ein künstlich hoher Anteil dieser Anleihen beste Bonitätsbewertungen trug.


2. Verfall der Standards. Der Anstieg des Fremdfinanzierungsgrades im US-Wohnimmobilienmarkt hat einen politischen Hintergrund: Die Reduzierung von Selbstbehalten und sinkende Standards bei der Kreditvergabe waren Gegenstand der Politik der Regierung während des Immobilienbooms. (Unter dem Stichwort „affordable housing“ wollten US-Regierungen seit den 70er- Jahren die Zahl der Eigenheimbesitzer unter den ärmeren Amerikanern steigern. Der Community Reinvestment Act machte seit den frühen 1990ern Druck auf die Banken, auch Kunden geringer Kreditwürdigkeit Hypothekardarlehen zu geben, Anm.) Der wichtigste Treiber war die – staatlich regulierte und immer laxere – Kreditvergabepolitik der staatsnahen Hypothekarbanken Fannie Mae und Freddie Mac und die politische Obsession, sich die steigende Zahl von Hausbesitzern auf die Fahnen heften zu können. Die Hypothekarschulden der Amerikaner stiegen von unter 50 Prozent des BIPs im Jahr 2001 auf fast 75 Prozent 2007. Während 2001 nur einer von zehn Wohnungskäufern weniger als drei Prozent Eigenmittel aufbrachte, waren es 2007 bereits vier von zehn.

Die Standards für die Kreditvergabe werden normalerweise von jenen Gläubigern vorgegeben, die selbst am leichtesten und billigsten zu Kapital kommen. Im US-Immobilienmarkt sind dies die staatsnahen Hypothekar-Institute Freddie Mac und Fannie Mae. Sie sind für den gesamten Markt die Liquiditätsbringer und die beherrschenden Aufkäufer und Garanten von Darlehen und Wertpapieren. Es ist daher nicht weit hergeholt, ihrer von der Politik unterminierten Kreditvergabepraxis die Verantwortung für die Risikoüberfrachtung des gesamten Systems zu geben.

Der Ökonom Eugene White hat gezeigt, dass die Immobilienblase in den 1920er-Jahren eine ähnliche Größenordnung hatte wie die aktuelle. Damals gab es aber so gut wie keine staatliche Intervention in den Hypothekenmarkt, und die Fremdfinanzierungsrate erhöhte sich während des Booms, aber im Allgemeinen nicht unter die Grenze von 20 Prozent Eigenmittelanteil. Auch gab es keine Anreize für den Banksektor, ihre Bilanzen in immer höherem Ausmaß hochriskanten Hypothekenfinanzierungen auszusetzen. Als 1926 die Immobilienpreise zusammenbrachen, reichte das nicht für eine Bankenkrise.


3. Ausdehnung des Marktanteils riskanter Kredite. Die staatsnahen Institute Fannie und Freddiehaben das Volumen riskanter Hypothekardarlehen in der Zeit von 2004 bis 2007 aufgebläht, indem sie ein Portfolio von rund 1,6 Billionen Dollar solcher Darlehen akkumulierten, um die hohe Zahl amerikanischer Hausbesitzer zu ermöglichen, die der US-Kongress vorgab. Dazu senkten sie ihre Kreditvergabe-Voraussetzungen. So wurde beispielsweise die Pflicht des Kunden abgeschafft, einen Einkommensnachweis vorzulegen. Mitte 2008 hatten die staatsnahen Institute schon 19 Millionen der 27 Millionen hochriskanten Hypothekarverträge (sog. Subprime und Alt-A-Bonitäten) aufgekauft, garantiert oder erzwungen.

4.Too-big-to-fail-Bailouts. Die US-Einlagensicherung, das Finanzministerium und der Kongress haben, beginnend in den 80er-Jahren, direkte oder indirekte Rettungsaktionen für die Gläubiger großer Finanzinstitute durchgeführt (First Pennsylvania, Continental Illinois, die Sparkassen, das Farm Credit System usw.) und dies bis 2008 fortgesetzt (Bear Stearns). Diese Entscheidungen der Regulierungsbehörden haben die Disziplin reduziert, die Gläubiger sonst von Bankinstituten verlangen – und die „Too big to fail“-Erwartung einer Staatsintervention bei Bankpleiten genährt. Normalerweise steuern nämlich die Gläubiger – nicht die Aktionäre – einer Bank die Risikopolitik des Instituts. Sie tun dies indem sie 1.) den Kredit reduzieren, 2.) höhere Zinsen verlangen, 3.) es ablehnen, riskante Projekte zu finanzieren, 4.) mehr Pfandrechte verlangen, 5.) Regeln erlassen, die die Vergabe von Krediten beschränken, und 6.) Einlagen zu sichereren Alternativen verlagern (im Fall von Sparern, die ja Gläubiger der Bank sind). Ohne exzessiven Schutz der Gläubiger durch den Staat hätten wir zweifelsohne gesehen, dass die Gläubiger eingeschritten wären, um das Risiko der Banken zu verringern.


5.Einlagensicherung. Im Jahr 1980 wurde die Einlagensicherung von 40.000 auf 100.000 Dollar je Konto angehoben; außerdem wurde 2003 die Möglichkeit geschaffen, Einlagen von bis zu 50 Millionen Dollar versichern zu lassen. Diese Regulierungswerke haben die Anreize für Unternehmen und potente Bankkunden herabgesetzt, exzessive Verschuldung und Risikoübernahme der Banken zu überwachen und zu disziplinieren. 2007 ergab eine Schätzung, dass mehr als 60 Prozent der Bankverbindlichkeiten in den USA – darunter sämtliche der 21 größten Bank-Holdings – direkt oder indirekt garantiert waren. Es gab also für die Sparer fast keine Anreize mehr, die ausufernden Risken zu beachten, die die Banken übernommen und die zur Immobilienblase und Finanzkrise beigetragen haben.

6.Niedrige Leitzinsen. Künstlich niedrige und manchmal sogar inflationsbereinigt negative Leitzinsen der Notenbank (Fed Fund Rate) von 2001 bis 2005 haben den Boom hochriskanter Immobilienanleihen angeheizt und brachten eine gefährliche Konstellation: Die Fristigkeit von Schulden entfernte sich immer weiter von der der Forderungen. Die meisten Subprime- und Alt-A-Hypotheken (Darlehen an Schuldner minderer Kreditwürdigkeit, Anm.) hatten zunächst sehr niedrige Zinssätze, möglich gemacht durch die niedrigen Leitzinsen der Fed, was die Nachfrage nach solchen Darlehen steigen ließ. Außerdem fielen von 2002 bis 2005 die kurzfristigen Zinsen stärker als die langfristigen. Die Banken borgten sich deswegen zu immer kürzeren Laufzeiten (billiges) Geld, während sie es unverändert langfristig verborgten. Als Wert und Handelbarkeit der hochriskanten Anleihen immer stärker in Zweifel gezogen wurden, taten sich die Banken dann immer schwerer, neue Kurzfristkredite aufzunehmen, die sie aber brauchten, um die alten zurückzuzahlen.


Staatsversagen erklärt nicht jeden Aspekt der Bankenkrise. Sie wäre so nicht entstanden, wenn nicht auch gewisse Privatunternehmen (wie Citigroup, UBS, Merrill Lynch) extrem kurzsichtig gedacht hätten – oder, wie man vielleicht sagen könnte, gierig gewesen wären. Aber Gier ist eine zeitlose und universelle Komponente der menschlichen Natur, und sie beeinflusst den staatlichen Bereich mindestens ebenso sehr wie den privaten. Daher ist Gier wenig relevant in der Erklärung, warum die Krise jetzt und gerade so ausgebrochen ist. Unser Argument ist, dass die Interaktion der hier skizzierten sechs Staatsversagen das Timing, das Ausmaß, die globale Wirkung und andere Eigenschaften der Bankenkrise besser erklären als irgendeine üble Geschäftspraxis, die nicht mit den Verzerrungen der Anreizsysteme zu tun hat, die durch staatliches Handeln entstanden sind.

In seinem Buch „Freefall“ erzählt Joseph Stiglitz, dass die Schuld für die Krise bei den Finanzmärkten zu suchen sei. Aber auf keiner seiner 361 Seiten kontert Stiglitz analytisch unser Argument. Mehr noch: Während er mit dem Zeigefinger auf alles und jedes deutet, ist das, was er am schuldigsten findet, die Protektionswirtschaft, die der staatlichen „Too big to fail“-Bankenrettungspolitik anhaftet und die er „Ersatzkapitalismus“ nennt. So bekräftigt sogar Stiglitz' Buch unterm Strich unser Argument.

Die Frage, wie stark staatliche Politik und wie stark die freien Finanzmärkte zur Krise beigetragen haben, ist von ungeheurer Bedeutung. Sie ist der „Elefant im Zimmer“ bei jeder Diskussion von Reformen und der Rolle des Staates überhaupt.

Mark J. Perry
ist Professor für Finanzwirtschaft an der Universität Michigan und derzeit Visiting Scholar am konservativen Think Tank American Enterprise Institute. Co-Autor Robert Dell ist Immobilienbanker in Atlanta.

Dieser Artikel ist die gekürzte und bearbeitete Fassung eines Beitrags, der im Magazin des American Enterprise Institute „The American“ erschienen ist.

Wer sich tiefer in das Thema vertiefen möchte, sei auf die umfangreichere, für Laien verständliche Abhandlung von Peter J. Wallison verwiesen: aei.org/docLib/2009-CFA-Wallison.pdf

("Die Presse", Print-Ausgabe, 09.01.2011)

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