Culture Clash

Kleben als Protestform

Das Kleben ist schön. Aber ist es – als Protestform – auch gut? Zorn oder Rührung können uns diese Frage nicht beantworten. Die Lehre vom gerechten Krieg vielleicht schon – mit einem Nein.

Ich bin auch schon wegen Marathons im Stau gestanden und habe die Veranstalter zum Teufel gewünscht. Aber unsere Emotionen sind, um mit Kant zu sprechen, keine Maxime, von der wir wollen sollten, dass sie Grundlage eines allgemeinen Sittengesetzes – oder auch nur des Verkehrsstrafrechts werde. Aber auch die Frage, ob der zivile Ungehorsam der „Letzten Generation“ gut ist, sollte nicht aus dem Bauch („mutige junge Leute“), sondern mit Vernunft beantwortet werden.

Mir scheinen dazu immer noch die Kriterien nützlich, die die (vor-kantische) abendländische Ethik an den – freilich extremeren – Beispielen des Krieges und des Tyrannenmords entwickelt hat: Wann ist es gut, etwas Schlechtes zu tun, nämlich die Friedensordnung zu stören? Da muss es um ein gutes Ziel und nicht um egoistischen Motive gehen und es muss das gelindeste Mittel sein, das außerdem – hier besonders relevant! – eine realistische Chance haben muss, einen besseren Zustand herzustellen. Widerstand bloß aus moralischer Entrüstung ist nicht gut, höchstens sympathisch.

Und da hat die „Letzte Generation“ nicht so gute Karten. Haben die von den Aktivisten geforderten Maßnahmen – Tempo 100 und keine weiteren Öl- und Gasbohrungen – realistischerweise das Zeug, eine Klimahölle abzuwehren? Und können aufstauende Klebeaktionen diese Maßnahmen realistischerweise herbeiführen? Die klassischen Hoffnungen bei Widerstandshandlungen sind ja: Bewusstmachung einer Ungerechtigkeit und Mobilisierung einer unterdrückten oder sprachlosen Masse. In einer funktionierenden Demokratie, in der 85 Prozent (Umfrage des Umweltbundesamtes) von der Existenz und der Brisanz des Klimawandels und der Notwendigkeit von Maßnahmen überzeugt sind, können Klebeaktionen wenig neues Bewusstsein erzeugen. Eine Umfrage aus Großbritannien (Social Change Lab mit YouGov, 2022) vor, während und nach Aktionen von „Just stop oil“ und „Extinction Rebellion“ bestätigt das: Die Einstellung der Bevölkerung und ihr Mobilisierungsgrad hat sich durch die Aktionen nicht signifikant geändert.

Manchmal kommt es Aktivisten darauf an, so gewalttätige Reaktionen zu provozieren, die einen Mitleids- und Solidaritätseffekt auslösen, der die Politik zum Einlenken bringt. Die Besonnenheit der Wiener Polizei macht es aber wenig realistisch, dass wutbürgerliche Automobilisten oder Exekutivkräfte die Aktivisten auf empörende und mobilisierende Weise verprügeln. Bliebe also nur die Anerkennung, dass hier jemand wenigstens irgendetwas tut. Aber das war noch nie eine wirklich vernünftige Maxime.


Der Autor war stv. Chefredakteur der „Presse“ und ist nun Kommunikationschef der Erzdiözese Wien.

meinung@diepresse.com

www.diepresse.com/cultureclash

("Die Presse", Print-Ausgabe, 15.01.2023)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.