Der Strom über die Westbalkanroute ebbt langsam ab. Das liegt an der neuen Visapolitik der Serben – aber auch daran, dass sich viele der hierzulande Aufgegriffenen zuvor schon Monate oder gar Jahre in Flüchtlingslagern im Südosten Europas aufhielten.
Kommenden Montag steht Karl Nehammer (ÖVP) eine heikle Reise bevor: Der Bundeskanzler besucht die EU-Außengrenze Bulgariens zur Türkei – just jenen Ort also, der ausschlaggebend war für Österreichs Veto zum Schengen-Beitritt des EU-Landes im vergangenen Herbst. Österreich hat im letzten Jahr nach Angaben des Innenministeriums über 100.000 illegale Grenzübertritte verzeichnet und seine Ablehnung der Schengen-Erweiterung um Bulgarien und Rumänien mit dem mangelhaften Schutz der EU-Außengrenze begründet. Ein diplomatisches Hickhack zwischen Sofia und Bukarest auf der einen und Wien auf der anderen Seite war die Folge.
Mittlerweile gehen die Zahlen stark zurück: Seit Mitte Dezember bis zu den ersten Jännertagen wurden um 70 Prozent weniger illegal eingereiste Migranten aufgegriffen.
Meiste Anträge aus Afghanistan
Die Regierung begründet diese Entwicklung mit dem Ende der Visafreiheit für indische und tunesische Staatsbürger in Serbien, von wo die Migranten mithilfe von Schleppern für ein paar Tausend Euro in die EU gelangt waren. Im letzten Jahr gab es in Österreich allein 30.000 Asylanträge aus Indien und Tunesien; in der Asylstatistik liegen sie nach Afghanistan und Syrien auf Platz drei und vier.
Doch der starke Rückgang der Aufgriffe dürfte auch auf den Faktor zurückzuführen sein, dass viele der Migranten bereits seit Monaten oder gar Jahren in Flüchtlingslagern auf dem Westbalkan aufhältig waren – und vor Beginn der kalten Jahreszeit aufbrachen, um an einen „sichereren“ Ort mit winterfestem Quartier in Österreich, Deutschland, Schweden oder anderen EU-Ländern zu gelangen.
Die griechischen Behörden sind ohnehin bemüht, die restlos überfüllten Lager nach und nach zu leeren und die Bewohner in Richtung Norden weiterziehen zu lassen. Nach dem Ende der durch die Pandemie verursachten Reisebeschränkungen hatte sich im vergangenen Jahr die Gelegenheit dazu geboten. Nun ebbt der Strom auf der Westbalkanroute offenbar langsam ab – was freilich nichts an der Dringlichkeit der Thematik auf EU-Ebene ändert. 2023 biete „die letzte Gelegenheit“, vor den nächsten Europawahlen im Jahr 2024 einen Pakt für Migration und Asyl abzuschließen, mahnte am gestrigen Mittwoch auch das Internationale Zentrum für Migrationspolitik (ICMPD).
„Politischer Wille fehlt“
Einen Fortschritt könnte der EU-Sondergipfel im Februar erzielen, hofft man in Brüssel – sofern die Mitgliedstaaten überhaupt an einer gemeinsamen Lösung interessiert sind. ÖVP-Europaparlamentarier Othmar Karas glaubt nicht daran: „Es fehlt der politische Wille“, beklagte er bei einem Pressegespräch am Mittwoch. Nötig seien ein gemeinsamer Außengrenzschutz sowie ein EU-Asylsystem und ein solidarischer Verteilungsschlüssel. Was den letzten Punkt betrifft, gibt es nicht einmal innerhalb der ÖVP Einigkeit: Die Spitze der Partei tritt dezidiert gegen eine EU-weite Quotenregelung auf – mit Verweis auf die ohnehin schon hohen Antragszahlen im Land. Stattdessen fordert Nehammer von der Kommission medienwirksam EU-Geld für den Bau von Zäunen an der EU-Außengrenze – wohl wissend, dass die Brüsseler Behörde bisher aus Prinzip keine finanziellen Mittel für „physische Barrieren“ herausgibt.