Arizona-Massaker: Die fatale politische Kultur der USA

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Die populistische Tea Party und immer schrillere Polit-Talkshows haben die Schranken der politischen Auseinandersetzung niedergerissen. Sie schüren Polemik gegen US-Präsident Barack Obama und Andersdenkende.

Washington D. C. Die Hauptstadt hat die Fahnen auf Halbmast gesetzt. Vor dem Obersten Gerichtshof und dem Kapitol ist das Sternenbanner zum Andenken an das Attentat von Tucson heruntergezogen worden. Schlag elf Uhr vormittags hielt Präsident Obama am Montag auf dem Rasen vor dem Weißen Haus eine Schweigeminute ab, ehe er sich seinem Gast aus Paris, Frankreichs Staatspräsidenten Nicolas Sarkozy, widmete. Ansonsten sagte Obama für die kommenden Tage mehrere Termine ab. Er hält sich bereit für eine Ansprache an die Nation, um die Politik zur Räson zu mahnen.

Ohnehin hat sich seit dem Wochenende in Washingtons Politrunden eine gedämpfte Rhetorik eingeschlichen. Allenthalben ertönen in den politischen Lagern Beschwörungen, den gehässigen Ton zurückzudrehen, der noch im Wahlkampf vor wenigen Monaten bei Kundgebungen und in den TV-Studios an der Tagesordnung war.

„Wird auf dich geschossen?“

Für Mittwoch hat John Boehner, der neue republikanische Sprecher des Repräsentantenhauses, den Kongress einberufen, um über neue Sicherheitsmaßnahmen für Politiker zu beraten – als einzigen Sitzungspunkt in dieser Woche. Einige Abgeordnete – unter ihnen der Demokrat Heath Shuler aus North Carolina, ein ehemaliger Footballstar der „Washington Redskins“ – haben bereits angekündigt, nur noch mit einer Pistole bewaffnet zu Bürgerversammlungen zu erscheinen. Die Demokratin Debbie Wasserman-Schultz aus Florida erzählte von der Angst ihrer Tochter: „Mummy, wird auf dich jetzt auch geschossen?“

Der Anschlag auf die beliebte demokratische Parlamentarierin Gabrielle Giffords, die sich noch vorigen Donnerstag an der Verlesung der Verfassung beteiligt hatte, stürzte die politische Klasse der USA nicht einmal eine Woche nach der Angelobung eines neuen Kongresses in ein schwarzes Loch. Politische Gewalt ist der Nation, die das Recht auf Waffenbesitz in ihrer Verfassung festgeschrieben hat, indes alles andere denn fremd.

1865 erschoss ein Verfechter der Sklaverei Präsident Abraham Lincoln während einer Theateraufführung. Die Morde an den Kennedy-Brüdern John F. und Robert sowie am Bürgerrechtsführer Martin Luther King waren ein blutiges Fanal der Hippie-Ära der 1960er-Jahre. Im März 1981 verübte schließlich John Hinckley ein Attentat auf Präsident Ronald Reagan, um der Schauspielerin Jodie Foster zu imponieren. Reagans Pressesprecher James Brady, seither halbseitig gelähmt, plädiert mit eher geringem Erfolg für eine Verschärfung des Waffenrechts.

Mit der Geburtsstunde der populistischen Tea Party im Frühjahr 2009 und den immer schrilleren Polit-Talkshows der Kabelsender, insbesondere von Fox News und ihren Chefpolemikern Glenn Beck und Sean Hannity, hat sich die politische Rhetorik radikalisiert. Der 24/7-News-Zirkel, befeuert von Facebook, Twitter und Blogs, dreht sich rund um die Uhr. Zusammen mit dem ultrakonservativen Radiomoderator Rush Limbaugh hetzen Beck und Co. aufs Übelste gegen Präsident Barack Obama – was wiederum auf breites Echo unter den Tea-Party-Aktivisten stößt.

Wendepunkt Gesundheitsreform

Im Zuge der Debatte um die Gesundheitsreform vergiftete sich das politische Klima dann dramatisch. Im Sommer 2009 platzte die Tea Party in Bürgerversammlungen, um mit populistischen Attacken gegen die ungeliebte Reform mobilzumachen. Als radikale Anhänger Obama in Konterfeis mit Hitler und Stalin gleichsetzten und demokratische Abgeordnete vor der Abstimmung in einem Spießrutenlauf mit Schmährufen und wüsten Tiraden überzogen, vereinzelt sogar Handgreiflichkeiten androhten, war eine Grenze überschritten und der Tiefpunkt der politischen Kultur erreicht.

Auf Websites ließen republikanische Hardliner unter dem Schlachtruf „Fire Pelosi“ die demokratische Sprecherin des Repräsentantenhauses in Flammen aufgehen. Sarah Palin forderte ihre Fans auf: „Gebt nicht klein bei, ladet nach“ und markierte Demokraten mit einem Fadenkreuz. Die Senatskandidatin Sharron Angle spielte in Nevada gar mit dem Gedanken, zur bewaffneten Revolution aufzurufen. Im Büro des demokratischen Abgeordneten Raul Grijalva fand sich in Yuma in Arizona schließlich neben einem zerborstenen Fenster eine Kugel.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 11. Jänner 2011)

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