Volkstheater

"52 Jokers": Lebensgeschichte mit Live-Piercing

Volkstheater/Marcel Urlaub
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Eine Revue, in der Schmerz eine mindestens so große Rolle spielt wie Liebe: Die New Yorker Underground-Künstlerin Little Annie steht im Mittelpunkt von „52 Jokers“ im Volx, der Dependance des Volkstheaters in Wien-Margareten.

Little Annie, eine Insider-Legende des New Yorker und Londoner Punk-Underground der Siebziger- und Achtzigerjahre, landet 2023 in einer gürtelnahen Filiale des Wiener Volkstheaters: eine schöne Theatergeschichte. Und eine wahre dazu. Ermöglicht hat sie der Schweizer Paul Wallfisch, seit 2020 musikalischer Leiter des Volkstheaters. Er hat mindestens ein Standbein in der New Yorker Szene und hat etliche Alben mit Little Annie aufgenommen.

Diese hat, ähnlich wie die etwas ältere Marianne Faithfull, in ihrer späten Jugend die Welt der „Torch Songs“ für sich entdeckt, düsterer bis abgeklärter Klagelieder über verlorene Liebe und vergebenes Leben. Im Unterschied zu Faithfull hat sie nie Brecht-Weill-Songs interpretiert, aber die Assoziation zu diesen stellt sich oft ein. In der Volkstheater-Revue wird sie etwa durch Betrachtungen des Mondes (über Bilbao? Alabama?) verstärkt, oder durch ein Video von Beth B. (die wiederum schon mit der geistesverwandten Lydia Lunch gearbeitet hat), das an die „Ballade vom ertrunkenen Mädchen“ erinnert. Und durch die – zumindest in der Anmutung autobiografischen – Texte, die Little Annie spricht.
, das an die „Ballade vom ertrunkenen Mädchen“ erinnert. Und durch die – zumindest in der Anmutung autobiografischen – Texte, die Little Annie spricht.

Surabaya-Johnny, warum so roh?

Fast so oft wie von den lebensprägenden Drogen ist da von Männern die Rede, auch sie lösen Rausch und Reue aus. Und immer wieder kommt das Motiv der „men with bad attitudes“, der narbigen Draufgänger, deren Rücksichtslosigkeit auf fatale Weise anziehend wirkt. Man kennt das vom Surabaya Johnny und von der Barbara in der „Dreigroschenoper“, die just angesichts von Hemdkrägen, die auch sonntags nicht rein sind, nicht nein sagen kann. Ein Satz von „Little Annie“ wirft ein interessantes Licht auf dieses Phänomen: Sie verliebe sich, sagt sie, in Männer, die sie selbst gern wäre.

Durchaus im kausalen Zusammenhang steht ein zweites Motiv des Abends: der Schmerz. Der mächtig und schön sei. „We are defined by our pain“, sagt Little Annie mehrmals. Dünn, fast hager, aber mit großem Mund und großen Augen, die immens tief blicken können, wirkt sie tatsächlich, als ob sie trotz aller Leiden so etwas wie Gelassenheit erworben hätte. „Everyday the whole world breaks my heart“, singt sie im Schlusslied „Dead Man Singing“. Evilyn Frantic, eine finnische Performerin, die in Berlin lebt, steht ihr auf der Bühne bei, als Spiegel, als Gefährtin, als jüngeres Alter ego, das wird nicht so klar. In einer zentralen Szene macht sie den Schmerz, von dem so oft die Rede ist, physisch augenfällig, indem sie sich lange Nadeln durch die Haut zieht. Tut ihr das gar nicht weh? Oder ist dieses Live-Piercing eine Demonstration der Gleichmut? Ältere, die so etwas nicht vom eigenen Leib kennen, schauen weg . . .

Die Musik von Paul Wallfisch an Klavier und Synthesizer und Pamelia Stickney am Theremin und an einem seltsamen Blasinstrument verbindet unverschämt schlichte Schönheit mit punktuellem Mut zum Schmerz, nach dem berühmten Motto der Einstürzenden Neubauten: Höre mit Schmerzen! Heute auch nicht mehr ganz junge Vertreter der Postpunk-Generation, die dieses Motto verinnerlicht haben, in deren Regalen womöglich Platten von Bands stehen, mit denen Little Annie gearbeitet hat, Coil oder Swans etwa, haben eine besondere Freude mit dieser Revue.

Volkstheater: Gutes Musikprogramm

Wie überhaupt mit dem Musikprogramm des Volkstheaters. So viel man am Konzept des neuen Direktors Kay Voges kritisieren kann, er hat mithilfe von Paul Wallfisch das Volkstheater auch zu einem Ort gemacht, an dem man unkonventionelle Popmusik (im weitesten Sinn) erleben kann, die an rein kommerziell geführten Häusern wenig Chancen hat. Das hat in Wien gute Tradition, man denke nur an die legendäre „Big Beat“-Reihe der Festwochen. Originellerweise kommt mit Marc Almond ein Mann, der schon 1988 bei dieser aufgetreten ist, am 2. April ins Volkstheater.

„52 Jokers“, weitere Termine: 25. und 26. Jänner.

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