Gastbeitrag

Die Mega-Rezession wird abgesagt

(c) Peter Kufner
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Im Wahn wirtschaftlicher Selbstzerstörung sind die EU und Deutschland nicht allein, sondern in zahlreicher schlechter Gesellschaft.

DER AUTOR

Dr. Albrecht Rothacher(*1955 in Erlangen).
1984 bis 2020 im diplomatischen Dienst der EU, auf Posten in Wien, Tokio, Singapur und Paris, zuletzt Leitender Verwaltungsrat für die Wirtschafts- und Handelsfragen Russlands im Russland-Referat des EAD in Brüssel. Autor von „Putinomics. How the Kremlin Damages the Russian Economy“ (2021).

Genug schlechte Nachrichten von der Wirtschaftsfront, fand das politische Berlin. Geldentwertung, Flatterstrom, Blackout, Schuldenberge, Entindustrialisierung, Mittelstandsverarmung, Bildungs- und Gesundheitskrisen, kaputte Lieferketten, fehlende Chips und Arzneimittel, marode Bahnen, Brücken und Panzer waren einfach zu viel.

Getreu der Doktrin des neuen Haus-„Philosophen“ der politischen Klasse – deklarierter Lieblingsautor von Blenderpolitikern von Ursula von der Leyen bis Sebastian Kurz –, des israelischen Bestsellerschreibers Yuval Harari, gibt es keine Nation, keine Wirtschaft, keinen Geldwert, kurzumnichts Wirkliches, sondern nur konstruierte Erzählungen, die tunlichst massenhaft geglaubt werden sollten. So mussten statt des drohenden wirtschaftlichen Absturzes mit einer doppelstelligen Inflation, drohenden Strom- und Produktionsausfällen und der Abwanderung der Industrie positive Prognosen her. Und die kamen wie bestellt.

Ulrike Malmendier, frisch bestallte Wirtschaftsweise, befand in Berkeley für die USA wie Deutschland nur einen künftigen „milden Abschwung“, in anderen Worten: ein nur leichtes Minus einer ansonsten stagnierenden Wirtschaft. Bundesbankchef Joachim Nagel (SPD) bekundete, die EZB werde die hohe Inflation „mittelfristig in den Griff bekommen“.

Milder Winter schont Speicher

Und das Statistikamt Eurostat legte sogleich die neuen Schätzungen der Monatsinflation für denDezember vor, und siehe, sie lagen mit 9,2 Prozent unter den 10,1 Prozent des Vormonats. Ein milder Winteranfang hatte die teuer mit US-Flüssiggas befüllten Gasspeicher geschont. Deutsche Verbraucher und die Industrie hatten ihren Gasverbrauch 2022 um 14 Prozent vermindert. Die einen, weil sie energiefressende Düngemittel- und Papierproduktionen ins Ausland verlagerten, die anderen, weil sie mit Ski-Unterwäsche in kalten Schlafzimmern schliefen. Von der Arbeitsfront verkündete die gescheiterte SPD-Chefin Andrea Nahles auf ihrem Versorgungsposten der Bundesanstalt für Arbeit mit derzeit 2,4 Millionen Arbeitslosen (5,4%) ebenfalls gute Nachrichten: ein erwartetes Absinken auf 2,15 Millionen für 2023. Sie verschwieg freilich, dass dies rein demografisch bedingt ist: Die letzten Babyboomer gehen in Rente. Und es kommt nichts nach, vom Taxifahrer über die Altenpflegerin, den Bäcker und Fließenleger bis zum Landarzt. Ihr mit Bürgergeld wohlversorgtes Millionenheer der Arbeitsscheuen ist schlicht nicht vermittelbar.

International soll es die überraschende Wieder-Öffnung Chinas richten. Endlich wieder funktionierende Lieferketten mit genügend Chips für die Automobil- und Elektrogeräteindustrie, Generika und Grundstoffe für die Arzneimittelherstellung, Kupfer, Nickel, Lithium, Grafit und seltene Erden für den Bau von Batterien, Solarpaneelen und Windrädern für die geplante Energiewende, für die wir uns so von China abhängig gemacht haben wie vordem von billigem russischen Pipeline-Gas. Neben der von der Corona-Wiedergeburt teilweise gelähmten chinesischen Exportwirtschaft sieht das internationale Umfeld 2023 wirtschaftlich und politisch düster aus.

Indiens Wirtschaft wächst

Stagnation in den USA, in Korea und Japan. Nur die indische Wirtschaft brummt mit sechs Prozent Wachstum, dank billiger russischer Rohstofflieferungen und weltweiter IT-Dienstleistungen. Es wird 2027 vor Deutschland und Japan zur drittgrößten Wirtschaftsmacht der Welt aufsteigen. Dazu kommt 2023 ein weltweiter Inflationsauftrieb nach dem Ifo-Institut von sieben Prozent, mit Raten von über 23 Prozent in Südamerika, Südasien und Afrika. An der europäischen Peripherie leidet Großbritannien an seiner Brexit-Krise mit bald 13 Prozent Inflation und Massenstreiks. Erdoğan vernichtet mit einer Inflationspolitik von 70 Prozent die Mittelschicht und treibt die besser gebildete türkische Jugend ins Ausland. Der ebenfalls vom Cäsarenwahn befallene Putin tut das Gleiche mit seiner Kriegspolitik, nachdem er produktive ausländische Investoren schon seit Jahren vertreibt und Russland jetzt als Rohstoffkolonie in die offenen Arme Chinas schiebt.

In dem Wahn kollektiver wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Selbstzerstörung sind Deutschland und die EU also nicht allein, sondern in zahlreicher schlechter Gesellschaft. In Deutschland als industriellem Herz der EU ist das Problem am dramatischsten. Nach einer Umfrage der PwC Unternehmensberatung halten 50 Prozent der Chemieunternehmen, 42 Prozent der Papierhersteller und 38 Prozent der Metallverarbeiter ihre Produktionskosten in Deutschland für nicht länger wettbewerbsfähig. Dazu kommen die politikinduzierte Verteuerung und Verunsicherung der Energieversorgung, die wachsenden polit-bürokratischen Klima- und Lieferkettenschikanen, die vergammelte Verkehrsinfrastruktur und ein immer schlechter ausgebildeter und motivierter Berufsnachwuchs.

Die industrielle Abwanderung wird nicht in Pressekonferenzen verkündet. Sie ist aber schleichend, andauernd und endgültig. In diesem Jahr erwarten nach einer IW-Umfrage 40 Prozent aller Unternehmen geringere Aufträge, vor allem in der Bauwirtschaft, die dank gestiegener Rohstoffpreise und Zinsen eine ernste Rezession erfahren wird. Im Einzelhandel fallen die Corona-Impulse bei IT-Geräten, Möbel-, Textil- und Bücherkäufen weg. Stattdessen wird inflationsbedingt gespart. Die produktive Wirtschaft wird also zerrieben zwischen Energie- und Materialkosten, Lieferproblemen und hohen Zinskosten, einer geschrumpften Nachfrage und dem ständig wachsenden Risiko von Stromrationierungen (dem „Brownout“), wie er in afrikanischen Entwicklungsländern üblich ist.

Die Mittelschicht verarmt

Dazu erodiert die Mittelschicht als Leistungsträger. Nehmen wir den klassischen Fall einer Mittelschichtsfamilie, die bis zum Jahr 2011, der Machtübernahme Mario Draghis an der Spitze der EZB mithilfe Merkels, der seither 4,4 Billionen Euro in den Kauf uneinbringlicher Staatsanleihen pumpte, Geld für den Kauf eines Einfamilienhauses angespart hatte. Real aber wurde dank der Nullzins- und Inflationspolitik von Draghi und Lagarde das Kapital halbiert und reicht nur noch für eine Garage. Wer von der Verarmung der Mittelschicht bislang profitierte, ist der zunehmend parasitäre Staatsapparat in Gestalt der inflationsgetriebenen Steuerprogression und immer neuer Zwangsabgaben, die als „Bepreisungen“ und „Entgelte“ behübscht werden und der seine neuen Schulden als „Sondervermögen“ auszuweisen sucht. Seine Legitimation versucht er in Gestalt der Ampel-Koalition ziemlich offen und schamlos, da die einstige Arbeiterklasse entfällt, durch die Ausweitung seiner Wahlklientel durch Transferabhängige vom Pensionisten als Traditionswähler bis zu den staatlich administrierten Mindestlohn- und Bürgergeldempfängern, eingebürgerten Migrantenmassen, Langzeitstudenten und ewig fortzubildenden Arbeitslosen zu erhalten.

Was mit dieser Politik wirtschaftspolitischer Dilettanten sicher nicht überleben wird, ist der Industriestandort Deutschland.

E-Mails an:debatte@diepresse.com

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("Die Presse", Print-Ausgabe, 25.01.2023)

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