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Eine Reise in Ssung Djangs Shandong

Martin Amanshauser
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Dürfte ich in die Vergangenheit reisen, würde ich Ssung Djangs Shandong wählen.

Ich kenne „Die Räuber vom Liangschan“, einen der ältesten Romane der Welt, seit dreißig Jahren — in der um 50 Kapitel zensurierten Kurzversion (1968). „Ein Mann, der bis zu seinem 30.  Lebensjahr unbeweibt gelebt hat, sollte nicht mehr ans Heiraten denken“, beginnt er apodiktisch, „und ein Mann, der bis zu seinem 40. Lebensjahr nicht Gouverneur geworden ist, nicht mehr nach diesem Amt trachten. Mit 50 Jahren sollte er sich keinen neuen Wohnsitz suchen, mit 60 nicht mehr ans Reisen denken.“

Verfasst wurde er vom Ex-Beamten Schi Nai An (1296–1370), der Überlieferungen über Banditen und Rebellen des frühen 12. Jahrhunderts rund um das Liang-Shan-Moor (Shandong) virtuos zusammenfasste: über 1300 hochpolitische und, je nach Herrscherdynastie, in China oftmals verbotene Seiten. Als Sage konzipiert ist der Einstieg, in dem ein Mandarin trotz ­Warnungen der Äbte eine tabubehaftete Tempelhalle freilegen lässt, aus der 108  Geister entfleuchten – die späteren 108 Häuptlinge. Das Buch offenbart Menschen vor einem knappen Jahrtausend, die ähnliche Bedürfnisse und Leidenschaften hegen wie wir, wiewohl ihr Leben vor allem wild-agonale Lösungsansätze kennt.

Ein Fächer aus Kampf, Intrigen und Kannibalismus breitet sich aus, gezecht wird pausenlos, am liebsten Tausende Schalen warmen Reisweins. Wir ver­folgen, wie der kleine Gerichtsschreiber Ssung Djang (Sung Kiang), „rechtzeitiger Regenfall“ genannt, der gegen Korruption und Misswirtschaft kämpft – eine historische Figur –, die Macht bei den Rebellen übernimmt, mit seiner wachsenden Anzahl an Häuptlingen Land­striche und befestigte Städte erobert und allmählich zu einem Player zeitgenössischer Politik wird.

Das Gut-Böse-Schema überwindend, ist Ssung Djang teilweise brutal, meist aber eine schwer depressive Person, die auf den Feldzügen regelmäßig taktische Fehler begeht, oft verkatert und mit dem Hang, in ­Tränen auszubrechen. In scheinbar ausweglosen Situationen ruft er: „Aiij, aiij, ­welche Bitternis müssen wir schlucken!“ Das Liang-Shan-Moor ist heute längst trockengelegt, eine Reise in jene Epoche wäre tollkühn und faszinierend.

("Die Presse Schaufenster" vom 27.02.2023)

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