Nicht nur Teenager, schon Volksschulkinder denken an Suizid
Suizid

Wenn Kinder ihr Leben beenden wollen

Nicht nur Teenager, schon Volksschulkinder denken an Suizid. Unter den 14- bis 20-Jährigen ist er die zweithäufigste Todesursache – vor allem bei Migranten. Die Med-Uni Wien will gegensteuern.

Aslan fühlt sich müde. Unter seinen schwarzen Haaren kreisen düstere Gedanken. Am liebsten, sagt er, wäre er jetzt woanders. An einem Ort, wo man sich keine Sorgen machen müsse. „Ich gehöre hier nicht dazu“, sagt der 13-Jährige, dessen richtiger Name ungenannt bleiben soll. „Es ist, als würde ich hinter Glas leben.“ Ein ähnliches Bild zeichnen seine Eltern. „Früher war er immer zum Blödeln aufgelegt“, erzählen Ebru und Amir. „Heute ist er still, schaut oft ins Leere, wenn wir ihn ansprechen – als stünde eine Wand zwischen uns.“ Sie blickt stumm zu Boden, er zuckt mit den Achseln: „Und sie wird immer massiver.“

Erst vor wenigen Monaten versuchte Aslan, sich das Leben zu nehmen. Gerade noch rechtzeitig wurde er von seiner Mutter daran gehindert. Ein Rettungswagen brachte ihn ins Spital, ein Arzt diagnostizierte eine Depression. Eine Therapeutin nahm sich seiner an. Erst zupfte Aslan nur an der Haut um seine Fingernägel. Dann, beim dritten Anlauf, erzählte er ihr von Hänseleien.

Leise spricht er auch jetzt. Über einen Reim, den sich Mitschüler ausgedacht hätten. Von der Mühe, die es ihn koste, Rechnungen zu lösen und sich Dinge zu merken. Und davon, wie sehr er seinen Großvater vermisse, der vor einem Jahr verstorben ist. Seine Augen werden feucht, ruckartig dreht er sich weg. Er hat genug gesagt.

Enorme Dunkelziffer. In ihrem jüngsten Bericht zählt die Weltgesundheitsorganisation (WHO) mehr als 800.000 Menschen, die sich pro Jahr das Leben nehmen. Alle 40 Sekunden stirbt demnach eine Person durch Suizid. Um das Zehn- bis Dreißigfache höher ist nach internationalen Schätzungen die Zahl jener, deren Suizidversuche nicht vollendet werden. In Österreich wies die Statistik Austria 1099 Suizidtote im Jahr 2021 aus. Es handelt sich um den zweitniedrigsten Wert seit 1970 – ein Rückgang, der nur bedingt aufatmen lässt.

„Tod durch Suizid ist die zweithäufigste Todesursache bei den 15- bis 20-Jährigen in Österreich nach Verkehrsunfällen“, sagt Türkan Akkaya-Kalaycı, Fachärztin für Kinder- und Jugendpsychiatrie und Leiterin der Ambulanz für Transkulturelle Psychiatrie und migrationsbedingte Störungen im Kindes- und Jugendalter an der Medizinischen Universität Wien. „Das ist allerdings nur die Spitze des Eisbergs.“ Nicht in den Chroniken erfasst werden nämlich jene Kinder und Jugendlichen, deren Versuche, sich das Leben zu nehmen, gescheitert sind, sowie jene, die zwar suizidalen Gedanken nachhängen, aber noch keine Taten gesetzt haben.

Gerade letztere Gruppe sei eine besonders junge: „Es gibt Volksschulkinder, die sagen, es brauche sie hier niemand, sie seien überflüssig, sie wollten sterben“, sagt Akkaya-Kalaycı. „Und die versuchen, dass ihren Worten Taten folgen.“ Ihre Beweggründe seien mannigfach. Einer davon: unangemessener Medienkonsum. Kinder würden zu oft per Handy oder Fernsehen bespaßt, die dort gezeigten Inhalte von den Eltern jedoch nicht auf deren Alter abgestimmt, warnt Akkaya-Kalaycı. „Viele Serien oder Spiele sind roh und verstörend, wenn Kinder das sehen und nicht erklärt bekommen, fühlen sie sich überfordert und entwickeln Ängste.“

Migranten überrepräsentiert. Auch instabile familiäre Beziehungen, Streit, finanzielle Nöte, Mobbing, Diskriminierung und Gewalterfahrungen sowie emotional Belastendes wie der Tod von Verwandten oder Freunden gelten als Risikofaktoren für suizidale Gedanken. „Kinder, die oft allein gelassen werden, können ein geringes Selbstwertgefühl entwickeln und vereinsamen“, ergänzt die Klinische Psychologin Zeliha Özlü-Erkılıç. „Andere, die mit ihren Emotionen nicht umzugehen wissen, können impulsive und aggressive Verhaltensweisen zeigen.“ Mit dem Alter kämen Liebeskummer, Leistungsdruck, hormonelle Einflüsse sowie Drogen und Alkohol als erschwerende Faktoren hinzu. Ein weiterer Punkt: „Vielfach spielen nicht rechtzeitig erkannte psychische Störungen eine Rolle, zum Beispiel Schizophrenie, Depressionen oder Angststörungen“, sagt Akkaya-Kalaycı.

»Mädchen begehen viel häufiger Suizidversuche, wobei Suizide bei Burschen häufiger vollendet werden.«

Türkan Akkaya-Kalaycı

Nicht zu vergessen die kulturellen und geschlechterspezifischen Faktoren. „Wir beobachten drei Dinge“, sagt Akkaya-Kalaycı, die seit 2015 den Lehrgang „Transkulturelle Medizin und Diversity Care“ an der Medizinischen Universität Wien leitet. „Erstens begehen Mädchen viel häufiger Suizidversuche, wobei Suizide bei Burschen häufiger vollendet werden. Zweitens wählen männliche Jugendliche meist härtere Methoden. Drittens sind Migranten in der Akutpsychiatrie überrepräsentiert.“

Das zeigt auch eine 2016 publizierte Studie, durchgeführt an der Wiener Uni-Klinik für Kinder- und Jugendpsychiatrie. Mehr als die Hälfte der 14- bis 18-Jährigen, die binnen dreier Jahre in der Akutambulanz vorstellig wurde, hatte demnach einen Migrationshintergrund. Die größte Gruppe von diesen bildeten türkischsprachige Jugendliche, die häufigste Ursache für ihr Erscheinen war ein Suizidversuch. Bei Jugendlichen mit Wurzeln in Bosnien, Kroatien oder Serbien war das der zweithäufigste Behandlungsgrund. Ähnliches zeigen Untersuchungen aus Deutschland sowie eine EU-weite Erhebung der Mental Health Foundation von 2018.

Zeliha Özlü-Erkılıç und Türkan Akkaya-Kalaycı erforschen Risikofaktoren für Suizidgedanken von Kindern.
Zeliha Özlü-Erkılıç und Türkan Akkaya-Kalaycı erforschen Risikofaktoren für Suizidgedanken von Kindern.(c) Caio Kauffmann, Presse

„Der Druck, dem diese Kinder ausgesetzt sind, ist enorm“, sagt Gesundheitspsychologin Özlü-Erkılıç. Zuhauf laste auf ihnen die Verantwortung, für ihre Angehörigen als Sprecher und Dolmetscher zu agieren, da sie am besten Deutsch beherrschen. Sie müssten Konflikte schlichten, Unklarheiten ausräumen, zu früh erwachsen werden. Auch die unterschiedlichen Geschlechterrollen und der Stellenwert der Religion in der Herkunfts- und Aufnahmekultur können es ihnen erschweren, sich einzufinden.

„Die Kinder können verwirrt sein, an welche Regeln und Gepflogenheiten sie sich zu halten haben“, so Özlü-Erkılıç. Oft würden sie von Gleichaltrigen „aus der österreichischen Gesellschaft diskriminiert, was die Kluft zur Mehrheitsgesellschaft vergrößern und den Anschluss verunmöglichen kann“. Zu finden seien die Betroffenen in allen sozialen Schichten.

„Den Kopf erkältet“. „Als ich 17 war, habe ich mir den Kopf erkältet“, sagt Cemre, die anonym bleiben will. Es ist ein türkischer Ausdruck dafür, dass sie drohte „verrückt zu werden“. In Ankara geboren kam sie als Kind in die Steiermark. Rasch lernte sie die Sprache, knüpfte Kontakte. „In der Hauptschule begannen dann die Anfeindungen“, erinnert sich die mittlerweile 23-Jährige. „Zeitgleich fingen meine Eltern an, Heiratspläne für mich zu schmieden.“

Cemre wollte diesen Weg für sich nicht, fühlte sich unverstanden, allein. Die Noten wurden schlechter, die Kopfschmerzen mehr. Als der Zeugnistag und der Flug nach Ankara näher rückten, überwältigte sie die Verzweiflung: „Heute weiß ich, dass es der größte Bullshit war, damals dachte ich, mir hilft nur der Suizid.“ Sich anderen anzuvertrauen kam indes nicht infrage: „Ich wollte nicht zur Telefonseelsorge, ich dachte, die verstehen mich nicht.“

Eine E-Health-Plattform soll derartige Hürden einreißen: „Es gibt viel zu wenig muttersprachliche Angebote“, bedauern Akkaya-Kalaycı und Özlü-Erkılıç. Die beiden haben daher ein Selbsthilfeprogramm für Kinder und Jugendliche entwickelt – verfügbar in den Sprachen Deutsch, Türkisch, Bosnisch, Kroatisch und Serbisch. Noch handelt es sich dabei um einen Link, der Betroffene zu einer Seite führt, die Ratschläge auflistet, um mit Schuldgefühlen, Einsamkeit oder Ängsten besser umgehen zu können. Zudem können sie dort in Echtzeit mit klinischen Psychologen chatten – kostenlos und anonym.

„Kinder haben ein Handy, Teenager sind fast dauerhaft online – wir möchten sie dort abholen, wo sie sind“, sagt Akkaya-Kalaycı. Online gehen soll die E-Health-Plattform noch im Herbst 2023 – vorerst als Teil der Webseite der Medizinischen Universität Wien. In einem nächsten Schritt soll das von Gesundheitsministerium und Fonds Gesundes Österreich unterstützte Projekt an Hilfsorganisationen und Schulen herangetragen werden.

Aslan redet inzwischen wöchentlich mit seiner Therapeutin, häufiger spricht er in das einstige Diktiergerät seines Opas. „Ich setze mich zu seinem Foto und erzähle etwas“, sagt er. „An anderen Tagen bin ich lieber still.“

Hilfe in Krisensituationen

Erste Hilfe und Notfallkontakte gibt es unter www.suizid-praevention.gv.at sowie bei der Telefonseelsorge unter 142 – österreichweit gebührenfrei und 24 Stunden pro Tag.

Der Kindernotruf ist rund um dieUhr unter der Nummer 0800 567 567 erreichbar – ebenso Rat auf Draht unter 147.

Jugendliche und Angehörige können auf der Website www.bittelebe.atHilfseinrichtungen finden. Unter www.promenteaustria.atsind weitere Unterstützungsangebote in den einzelnen Bundesländer aufgelistet.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 29.01.2023)

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