Unterwegs

Ilja will reden

Wenn sich in Sibirien ein vermeintlicher Patriot als Regimekritiker entpuppt.

Ilja ist ein Mann, wie viele sich einen russischen „Muschik“, den Macho-Mann, vorstellen. Groß, breit, mürrisch dreinblickend. Mit Jacke in Tarnfarben. Er ist keiner, mit dem man gern Zeit verbringen will. Reden will man mit ihm auch nicht besonders. Über Politik schon gar nicht. Als Ausländer sowieso nicht. Doch Ilja sitzt im selben Luftkissenboot wie ich und will übers zugefrorene Wasser des Baikalsees zu einer unbewohnten Insel gelangen. Ilja schaut durchdringend – und will reden. Über Politik!

Ich habe in den vergangenen Monaten viel „Patriotisches“ über Russlands „militärische Spezialoperation“ gehört, wie Moskau seinen Krieg in der Ukraine offiziell bezeichnet. Die immer selben Floskeln über die vermeintliche Bedrohung Russlands durch die Nato, die toten Kinder im Donbass, die acht Jahre lang angeblich niemanden interessiert hätten. Darüber, dass die Russen „nie Kriege anfangen, sondern sie immer nur beenden“.

Ilja fragt: „Und, wie isses: Friert ihr in Europa?“ So fangen in Russland oft Gespräche an, wenn das Gegenüber einem klarmachen will, dass Europa an der Misere, die die Welt erlebe, selbst schuld sei. Ilja aber überrascht. Auf mein „Es sind Plusgrade in Europa“ legt er los: „Ich wusste es, dass unsere Politiker uns belügen, dass im Zombie-Kasten (Fernseher, Anm.) immer nur Mist erzählt wird! Wer braucht den Krieg? Ihr nicht, wir auch nicht. Putins Entscheidung wirft uns 50 Jahre zurück.“

Der vermeintliche Patriot ist ein Regimekritiker. Einer, der irgendwie froh zu sein scheint, seine Kritik loszuwerden, ohne abgeführt zu werden. Später versinken wir beide in unseren Gedanken. Das Luftkissenboot gleitet übers klare Eis des Baikalsees.

aussenpolitik@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 29.01.2023)

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