Morgenglosse

Ein Vorgeschmack auf den EU-Beitritt der Ukraine

Die osteuropäischen Mitgliedstaaten werfen sich mutig für die Ukraine in die Bresche - aber beschweren sich nun über billige Getreideimporte. Solidarität hat ihren Preis - und der für die ukrainische EU-Mitgliedschaft wäre noch viel höher.

Wohlstandsverwahrloste Westeuropäer, die sich auf sieben Jahrzehnten Friedensdividende ausruhen und die Ukraine am liebsten heute statt morgen dem Moskowiter Regime zum Fraß vorwerfen würden, bloß um es dank russischem Gas wieder kuschelig warm zu haben: diese Charakterisierung ist in den mittelosteuropäischen Gesellschaften, die selber unter dem Moskauer Joch gelitten haben, seit dem russischen Überfall auf die Ukraine weit verbreitet. Und einen Kern der Wahrheit enthält sie, trotz aller überzogenen Persiflierung. Man führe sich nur die verächtlichen Äußerungen vieler westeuropäischer öffentlicher Intellektueller und Politiker über das ukrainische Volk vor Augen.

Aber ganz selbstlos ist die Unterstützung der Polen, Tschechen, Rumänen und Slowaken für den Überlebenskampf der Ukrainer auch nicht. Man denke beispielsweise an die Finanzierung der Waffenlieferungen an die Ukraine mittels der Europäischen Friedensfazilität, eines zwischenstaatlichen Geldfonds der Mitgliedstaaten. Natürlich können die ukrainischen Streitkräfte alte sowjetische Panzer aus den Armeebeständen dieser EU-Staaten schnell in Einsatz bringen, um sich gegen die Russen zu verteidigen. Aber dafür gibt es eben auch viel, viel Geld, das von den eingangs erwähnten reicheren Mitgliedstaaten im Westen kommt. Kein Generalstab zwischen Tallinn und Bukarest wird sehr laut dagegen protestieren, dass er sich mit europäischer Finanzhilfe seines alten Warschauer-Pakt-Materials entledigen und moderne westliche Waffensysteme kaufen kann.

Sehr lautstark hingegen regten sich mehrere dieser osteuropäischen Mitgliedstaaten am Montag vor dem EU-Agrarministerrat in Brüssel auf. Und zwar darüber, dass billiges ukrainisches Getreide, das eigentlich für die Weltmärkte bestimmt wäre (Stichwort: Welthungersnot), und zu diesem Zweck auf den „Solidarity Lanes“ der EU ohne viel Papierkram aus der Ukraine ausgeführt werden kann, nun doch in der EU Käufer findet. „Gegenwärtig mehren sich die Anzeichen dafür, dass dieser Anstieg, wenn er nicht begrenzt wird, die EU-Erzeuger im Agrarsektor in ernste Schwierigkeiten bringen kann“, beklagen Bulgarien, Tschechien, Ungarn, Polen, Rumänien und die Slowakei in ihrer gemeinsamen Depesche. Natürlich seien sie bereit, dem ukrainischen Agrarsektor auch weiterhin zu helfen. Aber bitte nur, wenn dies keine negativen Auswirkungen auf die eigenen Märkte habe. Und, welch Wunder: betroffene heimische Körndlbauern müssten natürlich entschädigt werden.

Zwei Drittel des EU-Budgets

Es ist natürlich nicht Zweck der Übung, wenn ukrainisches Getreide, das für Drittstaaten in Übersee bestimmt ist, wegen der illegalen russischen Seeblockade aber nicht über das Schwarze Meer exportiert werden kann und darum über die „Solidaritätsspuren“ der EU auf dem Landweg ausgeführt wird, in Europa bleibt. Aber wenn sich die Osteuropäer schon jetzt über diese vergleichweise überschaubare Störung auf dem Markt beschweren, lässt das nichts Gutes hinsichtlich eines ukrainischen EU-Beitritts erwarten.

Denn die Ukraine würde kraft der Größe ihres Agrarsektors die gegenwärtige gemeinsame Agrarpolitik ebenso sprengen wie die Regionalpolitik. Beide Geldtöpfe machen gemeinsam zwei Drittel des EU-Budgets aus - und die Osteuropäer sind die Hauptnutznießer davon. Es ist kaum zu erwarten, dass das Unionsbudget signifikant erhöht würde. Darauf achten die frugalen Nettozahler, die schon jetzt jeden Euro dreimal umdrehen, bevor sie ihn nach Brüssel überweisen. Also ist davon auszugehen, dass jeder Nettoempfänger ein kleineres Stück vom Förderkuchen bekommen wird, falls die Ukraine daran mitnaschen darf. Dann wird sich zeigen, wer es wie mit der Solidarität für die Ukraine hält.

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