Quergeschrieben

Spannende Kunst ist nicht (nur) das Werk guter Menschen

Raus aus den Kinos, rein in die ewige Versenkung: Die Höchststrafe der Cancel-Culture-Scharfrichter (m/w/*) wäre Schafott durch Boykott.

Monatelang schwieg ein Grazer AHS-Religionslehrer zu Missbrauchsvorwürfen, wonach er etlichen seiner Schüler Nacktfotos entlockt und, als ihm die Ermittler auf die Schliche kamen, zumindest einen der Buben zu Falschaussagen gedrängt habe. Erst in U-Haft war er dann doch weitgehend geständig, weshalb er nach zwei Tagen – entgegen dem Willen der Staatsanwaltschaft – wieder auf freien Fuß gesetzt wurde. Den Medien war der Herr Professor höchstens eine anonymisierte Randnotiz wert. Schließlich steht derzeit die Hinrichtung eines Bühnenstars, der zigtausende Darstellungen missbrauchter Kinder aus dem Darknet heruntergeladen hat, auf dem Programm. Dabei reicht nicht, dass dieser Schauspieler, zu Recht, lebenslang wohl keine Engagements mehr bekommen wird. Der Mann soll offenbar auch retrospektiv ratzeputz aus der Film- und Fernsehwelt eliminiert werden, weil Werk und Täter nicht getrennt gesehen werden dürften. Raus aus den Kinos, rein in die ewige Versenkung: Die von Cancel-Culture-Moralrichtern (m/w/*) verhängte Höchststrafe ist Schafott durch Boykott. Freilich müsste dann konsequenterweise ganz schön viel Weltkunst auf den Verbotsindex.

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„Unsere westliche Kultur sähe ganz anders aus, hätte es nicht all die verbrecherischen, aber kunstsinnigen Renaissancefürsten gegeben“, sagte der belgische Maler Luc Tuymans dem „Spiegel“ schon vor zwanzig Jahren, im Februar 2003. Drei Monate später, in der Nacht vom 11. Mai, betrat ein Mensch das Kunsthistorische Museum nicht über den Haupteingang, sondern über ein Baugerüst und verließ es nicht einmal eine Minute später mit Benvenuto Cellinis Saliera im Rucksack. Über Nacht wurde das kleine Salzfass zu Österreichs bekanntestem Kunstwerk, jeder wollte es sehen, der Verlustschmerz sei unermesslich, schluchzte der damalige KHM-Direktor, Wilfried Seipel, in die TV-Kameras. Drei Jahre später wurde der Klettermaxe enttarnt, die schöne Sally kam im KHM wieder unter die Glashaube. Dieser Tage jährt sich der Todestag des Saliera-Machers: Am 13. Februar 1571 starb der Florentiner Goldschmied, Bildhauer und multiple Verbrecher: Cellini wurde nicht nur des dreifachen Mordes, sondern auch des Missbrauchs minderjähriger Burschen beschuldigt. Eines seiner Opfer, Fernando di Giovanni di Montepulciano, musste Modell stehen für Cellinis Hauptwerk. „Perseus mit dem Medusenhaupt“, eines der bedeutendsten Beispiele manieristischer Bildhauerei, befindet sich heute auf der Piazza della Signora in Florenz.

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