Gastkommentar

Geschlechtswechsel durch bloße Selbsterklärung?

Rollenklischees. Wann ist ein Mann ein Mann, eine Frau eine Frau? Gedanken zu neuen Debatten um ein „gefühltes“ Geschlecht.

Das Konzept von „sozialem Geschlecht“, „Geschlechtsidentität“ und „Geschlechtsausdruck“ ist im Grunde ein rückschrittliches, denn es verfestigt in erster Linie althergebrachte Geschlechterrollenklischees. Es ist erstaunlich, dass nach mehr als 100 Jahren Frauen- und 50 Jahren Schwulen- und Lesbenbewegung heute immer noch bzw. wieder definiert wird, was typisch weibliche Verhaltensweisen oder typisch männliche Eigenschaften oder geschlechtstypische Äußerlichkeiten sind.

Wir sollten doch längst gelernt haben, dass das alles bloß mittels Tradition und Konvention antrainierte Stereotype sind. War es denn nur Propaganda, die uns einreden wollte, dass Mädchen und Frauen alles machen, werden und sein können, und Burschen und Männer ebenso – ohne von tradierten Geschlechterrollen eingeschränkt zu werden? Hoffentlich nicht!

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Sind es denn nicht nur mehr religiöse Fundamentalisten – wie evangelikale Christen, ultra-orthodoxe Juden oder die Taliban –, die immer noch genau zu wissen „glauben“ (sic!), wer und wie eine Frau bzw. ein Mann zu sein hat? Offenkundig nicht. Ausgerechnet queere Aktivistinnen und Aktivisten kommen mit ähnlichen Vorstellungen daher und gebrauchen dieselben Zuschreibungen und Schubladen. Denn woran will man die eigene (soziale) Geschlechtsidentität „weiblich“ bzw. „männlich“ konkret festmachen bzw. „ablesen“, wie das seit Neuestem heißt, wenn nicht an diesen überlieferten – längst überwunden geglaubten – klischeehaften Rollenbildern?

Schwachstellen erkannt

Wiewohl die Verfechter und Verfechterinnen der Theorie, es gebe ein soziales Geschlecht, deren Schwachstellen erkannt haben und inzwischen von „gefühltem“ oder „psychischem“ Geschlecht sprechen, können auch diese Begriffe nicht wirklich überzeugen, denn letztlich wird man bei deren Definition ebenfalls stets darauf zurückgeworfen, wie man die durch die gesellschaftlichen Umwelteinflüsse oktroyierten und anerzogenen Vorstellungen und Rollenklischees, was (typisch) männlich oder (typisch) weiblich ist, erlernt und verarbeitet hat. Jedenfalls sind weder die Gene noch Hormone noch bestimmte, angeblich bei Frauen und Männern unterschiedliche Regionen im Gehirn dafür verantwortlich, dass die einen Röcke und die anderen Hosen tragen sollen.

Non-binär firmiert als queer

Im totalen Widerspruch dazu stehen non-binäre Menschen, firmieren aber trotzdem unter „queer“. Sie lehnen diese (von ihren queeren Mitstreitern und Mitstreiterinnen reanimierten) rigiden Geschlechtsidentitäten ab. Früher hat man es einfach als „emanzipiert“ bezeichnet, wenn sich jemand aus geschlechtstypischen Zuschreibungen und Rollenbildern befreit hat. Mitunter entsteht daher der Eindruck, dass es in diesem Diskurs krampfhaft um Abgrenzung zu erreichten Errungenschaften – um der bloßen narzisstischen Distinktion willen – geht.

Solang diese etwas sektoid anmutende Debatte hauptsächlich innerhalb der LQBTIQ-Blase geführt wird, ist sie eher harmlos, wiewohl sie sehr an die bedenkliche postfaktische Covid-Debatte erinnert: subjektive Gefühle und Befindlichkeiten statt objektiver wissenschaftlicher Fakten, alternative Wahrheiten (es gebe mehr als zwei biologische Geschlechter), total egozentrisches Weltbild, obskurante Irrationalität und Verschwörungstheorien („alle, die nicht meiner Meinung sind, wollen mich vernichten“).

Mehr als problematisch wird es jedoch, wenn daraus politische Forderungen abgeleitet und erhoben werden wie zum Beispiel, dass bei der Eintragung des Personenstands nicht mehr das biologische Geschlecht herangezogen werden soll, sondern eben ein diffuses soziales/gefühltes/psychisches Geschlecht – und dies bloß aufgrund individueller Eigendefinition und Selbsterklärung (Beschlusslage der SPÖ). Dies bedeutete z. B., einem Mann wäre es möglich, sich ganz einfach durch einen Sprechakt zur Frau zu erklären – und der Rest der Welt hätte dies zu akzeptieren.

Frau sein kann jetzt ein jeder!

Abgesehen vom möglichen Missbrauch, hat dies eine ideologische Dimension: Männern würde ausdrücklich gestattet, die Definitionsmacht darüber zu usurpieren, wer eine Frau ist. Es laufen genug kranke Typen herum, für die das der ultimative Triumph in ihrer Frauenverachtung und Misogynie wäre: Frau sein ist nichts, das kann jetzt ein jeder! Natürlich haben diese Typen gar nicht vor, die Eintragung vorzunehmen. Ist auch nicht nötig – wenn besagtes Prinzip anerkannt wird, gilt es auch ohne behördlichen Sanctus.

Vordergründig wird diese Forderung damit argumentiert, dass ihre Umsetzung eine Erleichterung bei Transsexualität bzw. Geschlechtsdysphorie sei. Angesichts potenzieller Kollateralschäden scheinen die minimalen Anforderungen, die in solchen Fällen in Österreich für eine Personenstandsänderung noch zu erfüllen sind, durchaus zumutbar.

Gegen Extrempositionen

Jedenfalls verwundert es nicht, dass Feministinnen der alten Schule gegen solche Extrempositionen auf die Barrikaden steigen. Traurig ist es indes, dass sie von einer verblendeten und ideologisch verpeilten Linken im Stich gelassen werden.

Was für ein Treppenwitz der Geschichte: Man muss den rechten Parteien, in Österreich der ÖVP und FPÖ, schon jetzt dankbar sein, dass sie einen derartigen reaktionären Backlash und patriarchalen Irrsinn verhindern werden.

Kurt Krickler ist seit über 40 Jahren in der österreichischen und internationalen Schwulen- und Lesbenbewegung aktiv und Blogger: www.homopoliticus.at

E-Mails an:debatte@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 06.02.2023)

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