Die Wienerin Mercan Falter bangt um Familienmitglieder in der Provinz Hatay. Ein Verwandter wurde tot geborgen, von ihrem Onkel und seiner Familie gibt es kein Lebenszeichen. Es sind wenige Einsatzkräfte vor Ort.
Einzelne Bilder haben Mercan Falters Mutter in Wien erreicht. Trümmer, so weit das Auge reicht, Reste der Hochhäuser, die wie Kartenhäuser in sich zusammengefallen sind. Das Erdbeben der Stärke 7,8 hat Montagfrüh den Südosten der Türkei erschüttert, in der Provinz Hatay waren in einigen Regionen am Montagabend noch immer keine Einsatzkräfte zu sehen. „Es sind Zivilisten, die helfen“, sagt die Wienerin Falter. Auf den Bildern, die in sozialen Medien geteilt werden, erkenne sie die Stadt nicht mehr, sagt Falter. Die Stadt Iskenderun, aus der ihre Familie stammt. „Sie ist dem Erdboden gleichgemacht.“
Seit Montagfrüh weiß Falter auch, dass der Mann ihrer Cousine nicht überlebt hat, begraben unter den Trümmern. Seine Frau und die beiden Kinder überlebten knapp. In einem anderen Hochhaus wohnten ein Onkel und eine Tante, ihr Cousin mit seiner Frau, deren gemeinsames Baby. Von ihnen gibt es noch kein Lebenszeichen.
Weitere Familienmitglieder seien vor Ort, erzählt Falter, sie würden selbst anpacken, die Familie in Wien auf dem Laufenden halten, jedenfalls so lange, bis der Akku reicht.
Krankenhäuser eingestürzt
In Städten wie Iskenderun fehlt nicht nur der Strom, sondern ist auch das örtliche Krankenhaus eingestürzt – so auch im nahen Antakya. Dort riss auch der Boden des Flughafengeländes an vielen Stellen, das Gebäude des Katastrophenschutzes (Afad) soll komplett zusammengestürzt sein. In Antakya werde eine weitere Cousine die Nacht im Auto verbringen, sagt Falter. „Ihr Haus ist eingestürzt. Im Auto wird sie heizen, so weit der Tank reicht.“
„Wir sind auf uns allein gestellt“, twittert ein Einwohner Hatays, „dem Tod überlassen.“ Eine junge Frau schreibt: „Jemand hat meinen verletzten fünfjährigen Cousin angeblich ins Krankenhaus gefahren, wir finden ihn nicht mehr.“ Unzählige verzweifelte Nachrichten werden in sozialen Medien wie Twitter geteilt, Betroffene und Angehörige geben ihre genauen Adressen bekannt und flehen um Hilfe, Adressen, die es nicht mehr gibt. Überlebende, die ihre Handys parat haben, veröffentlichen Bilder von sich in den Trümmern. „Rettet mich“, schreibt eine Frau aus Antakya, das Bild zeigt kaputte Möbel, ihr halbes Gesicht.

Rund 1200 Gebäude seien in Antakya zerstört worden, sagte Bürgermeister Lütfü Savaş Montagabend im türkischen Fernsehen: „Wir brauchen dringend Hilfskräfte, von der Regierung, von den Zivilisten.“ Die Provinz könne die Rettungsaktionen nicht alleine stemmen, aufgrund der Folgewirkungen werden keine Maschinen wie Bagger eingesetzt. „Es ist eine große Katastrophe.“
Ihren Vater hat Mercan Falter erreichen können, er habe erzählt, dass es ihn beim Gehen umgeworfen habe. Der Vater weilte gerade in Iskenderun, war für ein Begräbnis eingereist, so auch viele weitere Familienmitglieder. „Wegen der Beerdigung war noch mehr Familie vor Ort als sonst.“ Auch aus Wien wollten noch einige Familienmitglieder am Wochenende nach Hatay fliegen, doch wurden die Flüge wegen Sturmwarnung gestrichen: „Das war unser einziges Glück.“

Aus Istanbul haben sich zwei Cousins auf den Weg nach Antakya gemacht, 1000 Kilometer mit dem Auto. Sie wollten versuchen, so schnell wie möglich anzukommen, so Falter, doch in der Erdbebenregion sind nicht alle Straßen befahrbar. Auch deswegen kamen vorerst keine Hilfsgüter an. „Kein Essen, kein Wasser, kein Strom“, schilderte der Abgeordnete Serkan Topal am Montagabend die Lage vor Ort. „Es sind Stunden vergangen, ist noch immer keine Hilfe eingetroffen.“
Auf einen Blick
Gegen 4 Uhr früh am Montag erschütterte ein Erdbeben der Stärke 7,7 bzw. 7,8 den Südosten der Türkei, gefolgt von etlichen starken Nachbeben. Zentrum des Bebens war die Provinz Kahramanmaraş, die Erschütterungen waren in vielen Provinzen und auch in Syrien stark spürbar und zerstörten auch dort unzählige Gebäude. Es ist die schwerste Erdbeben-Katastrophe seit rund 100 Jahren. Die Zahl der Todesopfer stieg in der Türkei am Montagabend auf 3000.
Auch die Provinz Hatay an der syrischen Grenze – etwa 170 Kilometer von Kahramanmaraş entfernt – ist stark betroffen. In Hatay, dem antiken Antiochia, leben etwa 1,7 Millionen Menschen. Die Provinz gehört zu den kosmopolitischsten in der Türkei.