Gastkommentar

Österreich braucht ein Shoah-Zentrum

Peter Kufner
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Die Ära der Zeitzeugen geht zu Ende, und noch immer fehlt ein Shoah-Zentrum in Wien. Wenn nicht jetzt, wann dann?

Anfang Jänner wohnte ich am Jüdischen Friedhof Baden an einem kalten Sonntagnachmittag der Beerdigung des mutigen, kämpferischen Journalisten und Holocaust-Überlebenden Karl Pfeifer bei, der sich in seinen letzten Lebensjahren als Zeitzeuge in Schulen zur Verfügung stellte. Im selben Monat startete am Holocaust-Gedenktag eine empfehlenswerte Ausstellung im Haus der Geschichte Österreich, die die zu Ende gehende Ära der Zeitzeuginnen und Zeitzeugen thematisiert.

Der Autor

Liam Hoare (*1989 in Crawley, Großbritannien) studierte Geschichte an der School of Slavonic and East European Studies des University College London. Hoare ist Europe Editor des „Moment Magazine“, einer Zeitschrift über jüdische Kultur, Politik und Religion. Er schreibt den englischsprachigen Newsletter „The Vienna Briefing“ über österreichische Politik und Kultur.

Wir leben in Zeiten des abnehmenden Lichts. Die Aufklärung über die Shoah und ihr Gedenken werden sich bald an eine neue Realität anpassen müssen.

In vielen Ländern wurden die Lebensgeschichten der Opfer und der Überlebenden durch die Errichtung eines Shoah-Museums bzw. Dokumentationszentrums aufrechterhalten. Die weltweit führenden Institutionen wurden außerhalb Europas gegründet: Yad Vashem in Jerusalem und das USHMM, das Holocaust-Gedenkmuseum der Vereinigten Staaten in Washington. In den Staaten der Täter und Kollaborierenden wie Ungarn und Frankreich haben das Mémorial de la Shoah und das Holocaust-Gedenkzentrum Budapest versucht, nicht nur den Holocaust zu memorialisieren, sondern eine Dauerausstellung über das dunkelste Kapital des zwanzigsten Jahrhunderts zu inszenieren, die sich mit diesem Aspekt ihrer Nationalgeschichten auseinandersetzt.

Unsichtbare Denkmäler

Unter den Täterländern ist Österreich – wie immer – eine prominente Ausnahme. Seine teilweise gelungene Aufarbeitung der Vergangenheit, die das Land seit der Waldheim-Affäre und der Vranitzky-Rede erlebt hat, hat seine Beziehungen mit dem Staat Israel sowie der jüdischen Diaspora mit österreichischen Wurzeln verbessert. Konkret ist die Vergangenheitsbewältigung als eine Konstellation von Denkmälern und Mahnmalen zum Ausdruck gekommen. Das Mahnmal für die österreichischen jüdischen Opfer der Shoah am Judenplatz und die Namensmauern-Gedenkstätte, die mit ihren 64.000 Namen die menschlichen Dimensionen der Tragödie belegt, sind würdige Orte des Nachdenkens und der Betrachtung.

Nichts ist so unsichtbar wie ein Denkmal, behauptete Robert Musil. Ein Denkmal ist auch stumm, und seine Sichtbarkeit hängt vom öffentlichen Bewusstsein ab. Bildung und Erinnerung gehen in diesem Sinne Hand in Hand. In Berlin gibt es etwa einen „Ort der Information“ unter dem riesigen Stelenfeld des Denkmals für die ermordeten Juden Europas. Wien hat dagegen noch keine vergleichbare Institution – keinen Gedenkort, an dem die Geschichten der Überlebenden bewahrt und ausgestellt werden oder die Besucher mit dem Weg von Wien nach Auschwitz und der Rolle von Österreicherinnen und Österreichern im Nationalsozialismus konfrontiert werden.

Wien hat ja ein gut besuchtes, nachdenklich stimmendes und gesellschaftspolitisch relevantes Jüdisches Museum. Die spannende Debatte über die Ausstellung „100 Missverständnisse über und unter Juden“, die sich in den vergangenen Wochen in dieser Zeitung abgespielt hat und in der es teilweise auch um ihre Darstellung des Holocaust gegangen ist, spricht für die Bedeutung des Museums sowohl für die Stadt als auch für die jüdische Gemeinde – und zeigt gleichzeitig, warum ein jüdisches Museum kein Ersatz für ein umfassendes Holocaust-Zentrum ist.

Auch eine Geschichte der Täter

Obwohl ein jüdisches Museum naturgemäß die Shoah thematisieren soll, würde ein jüdisches Museum als Shoah-Zentrum das Judentum auf den Holocaust reduzieren und die Vielfalt der jüdischen Geschichte und Gegenwart in Wien ignorieren. Das eine mit dem anderen zu verbinden und zu vermischen könnte auch gewisse Missverständnisse in der nicht jüdischen Gesellschaft über den Holocaust noch verstärken. Darüber hinaus ist die Geschichte der Shoah nicht nur die Geschichte der Opfer, sondern auch der Täterinnen und Täter, und ein jüdisches Museum ist nicht dafür verantwortlich, mit der Rolle der Verbrecherinnen und Verbrecher und der Mehrheitsgesellschaft umzugehen. Diese gehört in ein anderes Museum.

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Aber es gibt kein anderes, das derzeit eine Dauerausstellung diesbezüglich ausrichten könnte. Die nächstliegende Wahl wäre angesichts seiner Erfahrung mit Ausstellungen wie „Ende der Zeitzeugenschaft?“ das Haus der Geschichte Österreich, aber diese Option muss man aus rein praktischen Gründen ausschließen: Die Neue Burg ist viel zu klein, um das Museum in seiner aktuellen Form zu beherbergen, geschweige denn eine neue Shoah-Ausstellung. Das vorgeschlagene „Haus der Verantwortung“ im Adolf-Hitler-Geburtshaus in Braunau am Inn war auch ein No-Go, weil es dem Hitler-Mythos und der österreichischen kollektiven Opferrolle Glauben geschenkt hätte.

Nein, Österreich braucht ein neues, unabhängiges Shoah-Zentrum, in dem Verbrechen aufgearbeitet und Fakten dargestellt werden können. George Orwell schrieb von seiner „power of facing unpleasant facts“, also der Fähigkeit, unangenehmen Tatsachen ins Auge zu sehen. Die im Oktober 2021 neu eröffnete Länderausstellung im KZ Auschwitz I zeigte, dass Österreich endlich bereit ist, das zu tun. Die originale, 1978 errichtete Ausstellung hielt die Opferthese aufrecht. Die neue behandelt die parallelen Geschichten von Österreich und Auschwitz, die Entwicklung des nationalsozialistischen Terrorregimes und die Mitverantwortung großer Teile der österreichischen Bevölkerung an den NS-Verbrechen. Das einzige Problem: Die Ausstellung befindet sich in Polen und nicht in Österreich, wo Schülerinnen und Schüler laut verschiedenen Studien immer noch zu wenig über den Nationalsozialismus und den Holocaust wissen und die Shoah auf der Straße bei politischen Demos verharmlost und relativiert wird.

Zum letzten Punkt ein Wort der Warnung. Wie „Quergeschrieben“-Kolumnistin Anna Goldenberg in Bezug auf „100 Missverständnisse . . .“ richtig geschrieben hat, ist ein jüdisches Museum keine Heilanstalt gegen Antisemitismus. Dasselbe gilt für ein Shoah-Zentrum. Die Holocaust-Leugnung ist weniger eine Angelegenheit für Museen als für das Justizsystem.

Der politische Wille ist da

Die Vorteile eines Shoah-Zentrums überwiegen die Nachteile, und seine offensichtlichen Grenzen sollten nicht abschreckend wirken. Das baldige Ende der Ära der Zeitzeuginnen und Zeitzeugen bringt Gefühle von Traurigkeit und Dringlichkeit mit sich: wenn nicht jetzt, wann dann? Österreich verfügt über die notwendige wissenschaftliche Kompetenz und den politischen Willen, ein neues Museum und Dokumentationszentrum über den Holocaust zu begründen. Vergangenen Monat wies die Verfassungsministerin, Karoline Edtstadler, darauf hin, die Bundesregierung sei gesprächsbereit. Und in Wien wird es bald einen möglichen Standort geben, da der Schandfleck Heldenplatz nach dem Abbau der Containergebäude in ein zentrales Erinnerungsviertel umgestaltet werden könnte. Aber der letzte Punkt ist nur ein bescheidener Vorschlag meinerseits.

E-Mails an:debatte@diepresse.com

("Die Presse", Print-Ausgabe, 11.02.2023)

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