Türkei

Auf das Erdbeben folgt in der Türkei eine Welle der Gewalt

Ein türkischer Soldat auf einem Trümmerberg in Kahramanmaraş, Provinz Hatay. Der Staat ist bemüht, Präsenz zu zeigen. Die Sicherheitslage hat sich zuletzt massiv verschlechtert.
Ein türkischer Soldat auf einem Trümmerberg in Kahramanmaraş, Provinz Hatay. Der Staat ist bemüht, Präsenz zu zeigen. Die Sicherheitslage hat sich zuletzt massiv verschlechtert.Reuters
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Im Erdbebengebiet ist auch die öffentliche Ordnung zusammengebrochen. Plünderungen werden für Präsident Erdoğan zum Problem.

Istanbul/Wien. Eine Woche nach dem schweren Erdbeben im Südosten der Türkei machen sich Plünderer den Zusammenbruch der öffentlichen Ordnung in Teilen des Katastrophengebiets zunutze: Supermärkte und Lastwagen mit Hilfsgütern werden ausgeraubt, wie türkische Medien berichten. Fast 50 Verdächtige wurden bisher verhaftet, die Armee schickt bewaffnete Patrouillen.

Der 82-köpfige Rettungstrupp des österreichischen Bundesheers hat daher schon am Samstagvormittag seinen Einsatz unterbrochen und als Grund die „zunehmenden Aggressionen zwischen türkischen Gruppen“ angeführt. Sogar Schüsse sollen gefallen sein. Auch das deutsche Technische Hilfswerk (THW) stellte am Samstag seine Hilfe in der Provinz Hatay ein und verwies auf „tumultartige Szenen“ in der Gegend. Die Trauer weiche der Wut: Im Katastrophengebiet werden kaum noch Überlebende gefunden. Zudem werden Lebensmittel und Wasser mancherorts knapp.

Das Bundesheer setzte am Samstagnachmittag seinen Rettungseinsatz fort, weil die türkische Armee den Österreichern Schutz gewährte. Einige Soldaten begleiteten die Helfer. Am Sonntag blieben die Österreicher dann trotzdem wieder in der Basis. „Alle 82 sind bereit. Sie halten sich im Camp auf. Aber momentan gibt es keine Aufträge an uns“, sagte ein Sprecher des Verteidigungsministeriums zur „Presse“.

Die Österreicher wollen aber noch bis Donnerstag vor Ort bleiben. Die Chancen auf Lebendbergungen schwinden indes mit jeder Stunde, auch wenn am Wochenende die Nachricht rührte, dass in Antakya ein fünf Monate altes Baby nach 134 Stunden lebend aus den Trümmern geholt wurde. Nach Berechnungen der UNO könnte die Zahl der Todesopfer in der Türkei und Syrien, zurzeit rund 30.000, auf mehr als 50.000 steigen.

Minister kritisiert Bundesheer

Der türkische Innenminister, Süleyman Soylu, kritisierte unterdessen die Arbeitsunterbrechung der Europäer scharf. Es sei eine Schande, wie die Türkei hier verleumdet werde, sagte er. Die Zahl der Sicherheitskräfte im Erdbebengebiet ist seinen Angaben zufolge mehr als verdoppelt worden. Und die türkische Botschaft in Wien hat schon am Samstag gegenüber der „Presse“ behauptet, die Österreicher hätten gar nicht wegen der Sicherheitslage pausiert, sondern wegen Problemen mit „Internet und Telefonverbindung“.

Seit Tagen mehren sich allerdings Berichte über Plünderungen und Diebstähle in den zerstörten Städten. Manche Erdbebenopfer sagten, sie hätten sich in verlassenen Läden oder Supermärkten mit Wasser und Lebensmitteln versorgt, weil es keine andere Hilfe gegeben habe. Medienberichten zufolge sind aber auch immer häufiger organisierte Banden am Werk. Die Zeitung „Hürriyet“ meldete, die Polizei habe 20Verdächtige festgenommen, die per Lkw aus der Nachbarprovinz Osmaniye nach Hatay gekommen seien, um zerstörte Häuser auszurauben. Videos in den sozialen Medien zeigten, wie Männer in Geschäfte eindrangen und Lebensmittel, Haushaltsgeräte und sogar Kinderwagen stahlen. Andere sollen Ruinen nach Verwertbarem durchsucht haben. Die Nachrichtenagentur Anadolu meldete, gegen 48 mutmaßliche Plünderer seien Haftbefehle erlassen worden. Das Verteidigungsministerium hat Videos von Soldaten in Kampfanzügen und mit Schnellfeuergewehren im Anschlag veröffentlicht, die vor Banken und in zerstörten Innenstädten patrouillieren.

Spannungen mit syrischen Flüchtlingen

Die Berichte über die Plünderungen erhöhen den Druck auf Präsident Recep Tayyip Erdoğan, weil sie bei vielen den Eindruck verfestigen könnten, dass seine Regierung die Lage nicht in den Griff bekommt. Zudem verstärken die Meldungen die Feindseligkeit gegenüber den syrischen Flüchtlingen in der Türkei. Schon vor dem Erdbeben forderten viele Türken, die rund 3,6Millionen syrischen Flüchtlinge nach Hause zu schicken. Im Katastrophengebiet entlang der syrischen Grenze leben Hunderttausende Syrer, die jetzt für Raubüberfälle und Gewalt verantwortlich gemacht werden.

Der Vizevorsitzende des Fußball-Erstligisten Hatayspor aus Hatay, Ethem Sunar, sagte dem TV-Sender Tele1: „Hier herrscht Bürgerkrieg. Die Syrer haben mit Plünderungen begonnen.“ Der rechtspopulistische Politiker Ümit Özdağ, der die sofortige Rückführung aller Syrer fordert, hat ein Gespräch mit einem Türken im Erdbebengebiet veröffentlicht, der nach eigenen Worten von Syrern ausgeraubt worden ist. „Hörst du das, Erdoğan?“, fragte Özdağ in die Kamera.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 13.02.2023)

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