Interview

Ukraine-Raiffeisen-Chef Oleksandr Pysaruk: "Wir müssen Mitarbeiter ermahnen, wirklich in die Bunker zu gehen"

Oleksandr Pysaruk ist CEO der Raiffeisen Bank International (RBI) in der Ukraine.
Oleksandr Pysaruk ist CEO der Raiffeisen Bank International (RBI) in der Ukraine.Kravchuk Natasha Nv
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Die Mitarbeiter der Raiffeisen Bank in der Ukraine haben das Bankgeschäft durchwegs am Laufen gehalten. Darüber spricht ihr Vorstandsvorsitzender Oleksandr Pysaruk. Nach Kritik an der RBI für ihre Russland-Tochter schlägt er einen schwierigen Spagat zwischen seiner Rolle als RBI-Banker und Ukrainer.

Herr Pysaruk, wie erlebten Sie den Kriegsbeginn?

Oleksandr Pysaruk: Die Explosionen weckten mich auf. Boom. Boom. Es war 5.45 Uhr. Ich hörte die Flugzeuge, die über mein Haus fliegen. Meine Frau und meine zwei Söhne waren zufällig wegen der Schulferien im Ausland. Für mich, wie für die meisten Ukrainer, war es ein Schock. Keiner dachte, dass es wirklich passiert. Wir wussten, es könnte passieren, aber viele hielten es für zu verrückt. Um sechs Uhr hatten wir unsere erste Krisensitzung in der Bank. Insgesamt hatten wir fünf am 24. Februar 2022.


Wie verlief die erste Sitzung?

Ich und viele andere hatten Krisenerfahrung schon 2014 gesammelt, als Russland die Krim annektierte. Das war ein riesiger Erfahrungsschatz. Also hieß es: „Es ist bedauerlich, aber es ist wieder so weit. Lasst uns an die Arbeit gehen und unsere Erfahrungen nutzen, um in diesem besonderen Umfeld bestehen zu können.“ Das war die Einstellung des ganzen Landes. Ukrainer haben eine große Widerstandskraft gezeigt und auch die Bank. Es herrschte keine Verzweiflung. Wir wurden nicht emotional. Wir waren sehr professionell. Damit setzten wir den Ton für die ganze Bank. Das half, um nicht in einem emotionalen Tief zu versinken, was sehr leicht während eines Krieges passieren kann. Und dann kommt man nicht mehr heraus. Ich habe gelernt, mich selbst da herauszuziehen. Wenn man hinfällt, steht man wieder auf.


Wie war damals die Krim-Annexion?

Damals arbeitete ich noch als Vizegouverneur der Zentralbank. Es verhielt sich ähnlich, aber das Ausmaß war ein anderes. Wir befinden uns im größten europäischen Krieg seit 1945. Dieser Krieg ist eine Mischung aus den zwei Weltkriegen mit der Verwendung von Drohnen.


Mussten Sie um die Sicherheit Ihres Personals fürchten?

Sicher. Die Bomben fliegen umher. Es ist gefährlich. Ich hatte nicht viel Zeit, um über meine persönliche Sicherheit nachzudenken. Mein Haus steht etwas außerhalb von Kiew. Die Bomben wurden nicht zu nah abgeworfen. Aber alles war laut. Doch weder ich noch meine Kollegen fokussierten uns zu sehr darauf. Arbeiten gehen half uns, abseits von Pflichtgefühl und Resilienz in diesem Umfeld zu überleben. Wenn man beschäftigt ist mit Arbeit, dann denkt man nicht an die Gefahr. Aber als Bank haben wir von Tag eins um das Leben unserer Mitarbeiter gefürchtet. Im Krieg muss man eine Abwägung treffen zwischen der Sicherheit seines Personals und dem Aufrechterhalten des Geschäfts. Unsere Mitarbeiter wissen das. Wir sind Teil der kritischen Infrastruktur. Wir helfen dem Land, den Krieg zu bekämpfen. Die Bank zu schließen, wäre eine große Beeinträchtigung.

Steckbrief

Während der ersten drei Monate im Krieg hatte ich meine Familie nicht gesehen. Als ich beim Besuch an die Tür klopfte, öffnete mein sechsjähriger Sohn und starrte mich nur an, ohne mich zu erkennen. Er dachte, ich sei jemand, der seinem Papa ähnlich sieht. Mein Herz blieb stehen. Dann sagte er endlich ,Papa‘. Das hat mir Angst gemacht. Das ist ein Opfer, das ich persönlich erbringe.

Oleksandr Pysaruk saß 2014/15 im Direktorium der Nationalbank Ukraine (NBU), als der ukrainische Bankensektor im großen Stil saniert wurde. Zuvor arbeitete er für den Internationalen Währungsfonds (IWF).

Im Jahr 2019 wurde der in Mykolajiw geborene Ukrainer CEO der Raiffeisen Bank JSC in der Ukraine.

Der 58-Jährige ist Vater eines zehn- und eines sechsjährigen Sohnes. Sie beide und seine Frau befinden sich zur Sicherheit im Ausland.


Wie halten Sie das Geschäft am Laufen?

In unserer ersten Krisensitzung entschieden wir sofort den Modus Operandi. Wir dezentralisierten den Entscheidungsprozess für unsere rund 400 Filialen. Jeweils der Filialmanager und der regionale Leiter entscheiden, ob die jeweilige Filiale geschlossen wird. Erst im Nachhinein erhält das Management Informationen darüber, was der Status quo am Tag war. Die Einheiten entscheiden selbst. Sie müssen die Lage vor Ort einschätzen. Ein ähnliches Vorgehen gibt es für Bargeldlieferungen zu Unternehmen. Oft gehen diese durch Kampfgebiete. In dem Ganzen gibt es keine ideale Lösung.


Wie viele Filialen mussten schließen?

Während den vergangenen zwölf Monaten waren 70 bis 80 Prozent der Filialen geöffnet. Jene, die geschlossen werden mussten, lagen meist in den Kampfgebieten. Einige wurden permanent geschlossen, weil sie zu den okkupierten oder verlorenen Territorien gehören. In manchen Gebieten sind so viele Menschen geflohen, dass es kein Geschäft mehr gab.


Wurden Sie Opfer von Cyberattacken?

Ja. Wir haben wahrscheinlich die größten Cyberattacken in der ukrainischen Geschichte überlebt. Die Bank hat sie alle abgewehrt und hatte keine operativen Störungen. Schon ein Jahr vor dem Krieg haben wir in Technologie und IT-Sicherheit investiert. Wir waren vorbereitet. Das war Teil unseres Notfallplans, in dem IT die Hauptrolle spielte. Mein Rat an alle ist, Notfallplanung ernst zu nehmen. Auch wenn man glaubt, dass nie ein Krieg ausbricht, muss man sich vorbereiten.


Wie sieht der Arbeitsalltag aus?

Die ersten sechs Wochen hatten wir viele Krisensitzungen und mussten den Notfallplan anpassen. Zum Beispiel hoben wir das Datenzentrum in eine Cloud. Wir haben das innerhalb von nur drei Monaten geschafft. Danach trat so etwas wie Normalität ein. Zu dieser neuen Normalität gehört nun auch der Luftschutzbunker. Das gilt überwiegend für die Kriegsgebiete im Süden und Osten der Ukraine. Seit Russland im Oktober begann, auf Banken zu schießen, gehen wir manchmal mehrmals täglich in die Luftschutzschächte. Erst vor Kurzem verbrachten wir dort sechs Stunden. Der Alarm ging dreimal los. Es passiert fast jeden Tag. Mindestens zwei- bis dreimal die Woche bombardiert Russland uns.


Was wird im Bunker gemacht?

Es wird gearbeitet. Wir statteten die Luftschutzschächte mit Wifi und Büromöbeln aus. Die Mitarbeiter nehmen ihre Laptops mit, und dann halten sie dort ihre Meetings und schreiben E-Mails. Wir sagen, das sei normaler Betrieb, dabei ist nichts normal daran. Jeder ist sehr ruhig. Wenn der Krieg vorbei ist, weiß ich nicht, wie wir uns wieder umgewöhnen sollen. Wenn ich in Wien bin, fühle ich mich seltsam, ich warte auf die Alarme.


Was macht den Mitarbeitern am meisten zu schaffen?

Die Sicherheit ihres Lebens natürlich. Manchmal nehmen sie es auch zu sehr auf die leichte Schulter, und wir müssen sie ermahnen, wirklich in die Bunker zu gehen. Sie gewöhnen sich an die Gefahr. Wirklich schwierig ist es, die Familie nicht zu sehen. Viele sind getrennt von Frau und Kindern. Nach zwölf Monaten ist das sehr hart. Auch wenn Kollegen, Freunde oder Bekannte im Krieg sterben, ist das für alle furchtbar.


Wie viele Mitarbeiter sind gestorben?

Vier. 166 Mitarbeiter haben sich für den Armeedienst gemeldet. Einer ist verwundet, und einer wird vermisst.


Wie ist das Aufeinandertreffen mit russischen Kollegen?

Normalerweise sprechen wir nicht sehr viel mit russischen Kollegen. Die Banken agieren voneinander komplett getrennt. Gelegentlich sieht man sich in Wien. Wir gehen damit professionell um. In der Ukraine könnte das nicht jeder. Es herrscht eine sehr große Frustration und Wut. Das ist schwierig. Viele Menschen haben Familie in Russland. Die unterschiedlichen Parteien streiten und schreien sich an oder hören auf, miteinander zu reden. Ich selbst habe in Moskau gearbeitet. Ich habe Ex-Kollegen dort. Mit ihnen spreche ich nicht. Es ist eine Tragödie. Das heißt nicht, dass ich den Respekt für sie verloren habe. Wir hatten ein großartiges Verhältnis.


Was halten Sie von dem diplomatischen Vorgehen der ukrainischen Regierung?

Das wird viel debattiert. Einige finden das zu aggressiv. Ich nicht. Ukrainer werden bombardiert und getötet. Aus der Sicht der ukrainischen Bevölkerung macht die Regierung einen guten Job. Wir kämpfen nicht nur für unser Überleben, sondern auch für Europa. Wenn Wladimir Putin nicht hier gestoppt wird, marschiert er weiter. Wir sind sehr dankbar für die Unterstützung von allen Ländern. Der Krieg konsumiert so viel Geld und Munition. Ohne diese Hilfen würden wir nicht überleben.


Und wenn die ukrainische Führung Raiffeisen kritisiert?

Ich bin ein Manager der Bank und verteidige die Interessen der Bank. Gleichzeitig bin ich Ukrainer. Beruflich versuche ich, die Bank durch diese schwierige Zeit zu führen. Die RBI-Präsenz in Russland macht unser Leben hier nicht einfacher. Das ist kein Geheimnis. Als Ukrainer verstehe ich die Logik hinter der Kampagne. Es geht nicht um Raiffeisen, sondern um viele multinationale Unternehmen inklusive der Banken. Das Ziel ist es, Russland zu isolieren. Und je länger der Krieg dauert, umso aggressiver wird diese Kampagne werden.


Wie wichtig sind Banken im Krieg?

Banken sind die Verbindung zum globalen Finanzmarkt. Alle russischen Banken sind sanktioniert. Die einzigen, die Transaktionen durchführen können, sind ausländische Banken.


Welche Herausforderungen erwarten Sie?

Als der Krieg begann, war jeder voller Adrenalin, und wir wollten es uns selbst beweisen. Aber jetzt gibt es nichts mehr zu beweisen. Im zweiten Kriegsjahr müssen wir durchhalten. Es ist, als würde man durch einen dunklen Tunnel gehen, wo man das Licht noch nicht sieht, und man muss gehen, gehen, gehen für wer weiß wie lang. Das ist, was Widerstandskraft bedeutet. Dieses Jahr wird so viel schwieriger werden als das vergangene. Wir hoffen, dass der Krieg schnell vorbei ist. Es gibt keinen Zweifel, dass wir gewinnen werden.


Was war für Sie persönlich der schwierigste Moment?

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