Kreiskys Quadratur

Anderswo wäre seine jüdische Herkunft Privatsache gewesen, aber nicht in diesem Land, nicht in dieser Zeit: Die Wut, dass er als Jude politisch angreifbar und moralisch erpressbar war, brach nicht zuletzt im Konflikt mit Simon Wiesenthal hervor. Bruno Kreisky und das Judentum: eine Bestandsaufnahme.

Der Wiener Schriftsteller Robert Schindel erzählt die Geschichte, dass Bruno Kreisky in seiner Anwesenheit folgende Anekdote zum Besten gab: „Geht ein orthodoxer Jude im Jahr 1938 auf der Praterstraße, angetan mit Kaftan und großem, schwarzem Hut. Und als er die Straßenseite wechseln will, warnt ihn ein Polizist: ,Gehen Sie da nicht hinüber, da stehen zwei böse Nazibuben, die werden Sie verhauen.‘ Sagt der Jude: ,Ich werd mich nicht zu erkennen geben.‘ Und sehen Sie“, so Kreisky, „so geht's auch mir.“

Lebenslang rieb sich Kreisky an seinem Judentum, das ihm Fessel war und unverzichtbar. Sozialist, Staatsmann, Österreicher und Jude zu sein glich im vergangenen Jahrhundert einer Quadratur des Kreises. Der Quadratur Kreiskys. Er wusste, was er seinen Vorfahren verdankte: Lehrer, Richter, Abgeordnete, Industrielle. Ihre Erfahrungen und Traditionen waren in ihm zusammengeflossen wie seine Liebe zu Büchern, sein dialektisches Denken, sein Witz, seine Weltläufigkeit, seine Liberalität. Die Kultur der Diaspora befindet sich seit je an der Schnittstelle und im Dialog mit anderen Kulturen, zu ihr gehört auch die Kontroverse über Migration und Heimat, Anpassung und Konversion. Eine Minderheitskultur, die die Fragen der Mehrheit stellt und keine nationalen Grenzen kennt. Kreisky war ein souveräner Jude der Diaspora, und seine Fähigkeit, sich sofort an wechselnde Menschen, Sprachformen und Situationen anpassen zu können, kam aus dieser Tradition. Auch wenn er darin keine Besonderheit zulassen wollte, so war sie es, weil es einen wie ihn nach der Vernichtung der europäischen Juden kaum mehr gab.

„Ich erwarte, dass man die Religionszugehörigkeit eines Menschen, das heißt in meinem Fall meine jüdische Herkunft, als Privatsache betrachtet. Ich erlaube es niemandem, mich als Angehörigen einer bestimmten Rasse zu vereinnahmen“, sagte er zu Herlinde Koelbl, die ihn oft fotografiert hat. „Ich habe meine Herkunft nie verdrängt und nie verleugnet. Aber ich wollte mich ihr auch nicht unterwerfen. Ich bin nicht gläubig. Ich bin Agnostiker. Man kann aus der Religion ausscheiden und ist trotzdem durch seine Abstammung geprägt. Aber das hat für mich nie eine Rolle gespielt. Ohne lange nachzudenken, würde ich sagen, dass das Wissen von Auschwitz das Einzige ist, was mich vorbehaltlos an meine jüdische Herkunft bindet. Auschwitz ist das Schicksal der Juden, dem auch diejenigen nicht entrinnen können, die ihre jüdische Abstammung für mehr oder weniger beliebig halten. Ich habe nie auch nur einen Moment lang an die Berechtigung des Zionismus geglaubt. Ich bin der Meinung, dass die Juden dort hingehören, wo sie seit Jahrhunderten gelebt haben und wo sie zu Hause sind. Ich fühle mich dem Experiment Israel persönlich nicht verpflichtet. Überhaupt: Welche innere Beziehung sollte ich wohl zu einem in der Wüste kultivierten Land haben?“


Geistige Väter: Adler, Bauer

Das ist die Haltung eines assimilierten europäischen Juden. Sigmund Freud, Hans Kelsen, Ernst Gombrich, Karl Popper oder Karl Kraus hätten oder haben sich ähnlich geäußert. Die Debatten über Nation und Kultur, Emanzipation und Assimilation beschäftigten die europäischen Juden seit Napoleon, der ihnen das Tor aus dem Ghetto aufgestoßen hatte. Es kursierten unzählige Auffassungen, was es heißt, jüdisch zu sein, ob man sein Judentum beibehalten, wie ein zu eng gewordenes Korsett ablegen oder völlig neu leben konnte. Religion gehörte zum alten, hinter sich gelassenen Leben, eine Erinnerung, schon fast abgestorben. Viele Juden nahmen die Taufe, um aufzugehen in der bürgerlichen Normalität, oder machten sich überhaupt frei von jeglicher Konfession. Die Linke lehnte den Zionismus ohnehin als Festschreibung des ewigen Antisemitismus ab. Victor Adler und Otto Bauer, Kreiskys geistige Väter, vertraten ei- nen strikten Assimilationskurs.

Immer wieder beschwor Kreisky die Assimilationsgeschichte seiner Familie. Man war jüdisch, aber nicht religiös. Es zählte anderes: die aufgeklärte Liberalität, das Bekenntnis zu Österreich, Weltoffenheit, humanistische Bildung, das wöchentliche Zeremoniell, wenn sich die weitläufige Familie traf, und der Sinn für eine gewisse Etikette. Mit den zionistischen Eiferern wollten die Kreiskys ebenso wenig zu tun haben wie mit den ostjüdischen Einwanderern in den Arbeitervierteln und dem rabiaten Antisemitismus der christlichsozialen Partei. Sie lebten wie das ganze Wiener jüdische Bürgertum – dazwischen.

Erst in der sozialistischen Arbeiterjugend bekam der jugendliche Rebell seine Herkunft zu spüren, nachhaltig. Judenfeindschaft gehörte zur politischen Kultur, auch in der Sozialdemokratie. Was wollte so einer wie er? Sie schickten ihn weg, er kam zurück. Es zog ihn mit aller Macht unter die jungen Arbeiter, er spürte, dass er hier auf dem richtigen Platz war. Aber seit damals wusste er, dass ihm die jüdische Erbschaft wie ein Mühlstein um den Hals hing. Anderswo wäre seine Herkunft Privatsache gewesen, aber nicht in der Politik, nicht in diesem Land, nicht in dieser Zeit.

Er lebte in mehreren Welten. Da war die Familie, in der das Judentum ein universalistisches Konzept war, jenseits der Beschränkungen einer archaisch gelebten Religion. Da waren seine Studienfreunde, junge Barone und Großbürger, die alle bei der Heimwehr waren und nonchalant über seine Witze lachten, wenn sie mit ihm im Café Prückl saßen. Wenn ihn die Polizei im Visier hatte, hielten sie zu ihm, denn was hatte Freundschaft mit Politik zu tun? Da waren die Zionisten des Wladimir Jabotinski, die in den 1930er-Jahren in schwarzen Uniformen und hohen Stiefeln durch Wien marschierten. Jüdische Faschisten! Auch das gab es, es war ihm ein Schock. Er hasste die Faschisten, allen voran den später von den Nazis ermordeten Bundeskanzler Dollfuß, der im Februar 1934 die Arbeiterwohnhäuser vom Bundesheer hatte beschießen lassen und danach eine Diktatur errichtete. Da waren die jungen proletarischen Nazis, mit denen er im Gefängnis saß, die früher sozialdemokratisch gewählt hatten und jetzt auf den Moment warteten, wo sie es den Vaterländischen und den Juden heimzahlen konnten, weil sie sich den wahren Grund ihres Elends nicht zu erklären vermochten. Da war die Partei, die seinem Leben, wie er immer wieder sagte, Sinn und Inhalt gab und ihm wegen seiner Herkunft immer misstraute. Er war ein glühender Sozialist, er bewährte sich in der Haft (ein Jahr wegen Hochverrats, ein Urteil, das er nie aufheben ließ), im Exil und später als Staatssekretär und Außenminister. Aber er hatte nicht den richtigen Stallgeruch.

Kreisky, der so viele kluge und weit ausholende politische Analysen entwickelte, sprach weder den Antisemitismus und schon gar nicht die Ressentiments seiner eigenen Partei jemals offen an. Als er gegen den massiven Widerstand in den eigenen Reihen Parteivorsitzender und schließlich Bundeskanzler wurde, erklärte er, „nie irgendwelchen Antisemitismus verspürt“ zu haben. Er ließ es nicht zu, dass seine Herkunft zum Politikum wurde. Es ging nicht gegen, sondern nur mit dem Strom.

Weder konnte noch wollte er die Verwicklung der Österreicher in die NS-Zeit zur Debatte stellen. Als Jude, davon war er überzeugt, hatte er in dieser Arena nichts zu gewinnen. Peter Kreisky schrieb 2009 dazu, dass „antinazistische Aktivitäten von Menschen jüdischer Herkunft begrenzte Wirkung haben, weil tendenziell Eigeninteresse in Anschlag gebracht wird. Aus diesen Gründen sah es mein Vater als folgerichtig an, mich zu Zeiten der Mahnwache gegen Kurt Waldheim am Haupttor des Stephansdoms (1986) davon zu überzeugen, mich daran nicht zu beteiligen. Er war der Meinung, dass dieser Protest in erster Linie eine Verpflichtung von Nichtjuden sei.“ Noch in seiner letzten großen Rede im November 1987 machte Kreisky den Jüdischen Weltkongress für das „Lostreten der politisch-antisemitischen Lawine“ während der Kontroverse um die Vergangenheit Kurt Waldheims verantwortlich. Kreisky konnte seine Quadratur nicht lösen. Sie ließ ihn in bittere Konflikte geraten. Mehr noch: Er forderte sie geradezu heraus.

1946, nach acht Jahren im schwedischen Exil, schrieb er einem Freund, „dass ich nicht die Absicht habe, zu einer peinlichen Verlegenheit für die Partei zu werden“. Juden und Emigranten waren nicht erwünscht in der neu erstandenen Republik, eine tiefe Kränkung für jemanden wie ihn, der sich schon im Exil auf seine künftige Rolle als Staatsmann vorbereitet hatte. Er wollte deshalb auch nie einer alliierten Armee beitreten, er fürchtete, dass ihm das nach dem Krieg schaden könnte.


Der österreichische Konsens

Er war bereits 40, ehe er, durch Zufall, nach Österreich zurückkehren und seine Karriere als Berater des Bundespräsidenten starten konnte. Ein Großteil seiner Familie war umgebracht worden. Aber er glaubte fest an die Lernfähigkeit der Menschen. Und er wusste, dass sein Handlungsspielraum als Jude und Emigrant sehr eng war. Der österreichische Konsens verlangte, sich als Opferland darzustellen und alle Ansprüche der überlebenden Juden strikt zurückzuweisen. Aber er entzog sich nicht seinen tieferen Gefühlen.

In einem privaten Brief an den Generalkonsul Karl Hartl in Tel Aviv 1954 sprach sich Kreisky, damals schon Staatssekretär, gegen alle jüdischen Reparationsforderungen aus. Andererseits legte er, wie er schrieb, größten Wert darauf, die in Österreich und im Ausland lebenden Juden gleichzustellen und sich um alle Überlebenden zu kümmern, egal, welche Staatsbürgerschaft sie nun hatten, was keineswegs der Staatsräson entsprach. Fünf Jahre später, als Außenminister, wurde er von den Israelis gebeten, geheime Missionen des Mossad in Osteuropa und in der Sowjetunion zur Vorbereitung einer langfristigen Auswanderung der dort noch lebenden Juden zu decken und ihnen über Österreich die Passage in den Westen zu ermöglichen. Operationsbasis war die israelische Botschaft in Wien. Er tat es, obwohl ihm klar war, dass er damit zum Türöffner der zionistischen Einwanderungspolitik wurde. Aber es waren Juden, und ihre Auswanderung zu ermöglichen war ein Schlag gegen die sowjetische Repression. 200.000 Juden verließen über Österreich den kommunistischen Machtbereich.

Allerdings wurde ihm das Durchgangslager in Bad Schönau, das von den Israelis de facto als exterritoriales Gebiet betrachtet und zum Symbol des neuen Exodus hochstilisiert wurde, ein Dorn im Auge. Als ein palästinensisches Terrorkommando im September 1973 einen Auswandererzug überfiel, schloss er das Lager im Gegenzug zur Freilassung von vier Geiseln und handelte sich damit einen Proteststurm ein. Weder die israelische Ministerpräsidentin Golda Meir noch der Druck der Amerikaner konnten daran etwas ändern. Der Transit ging weiter, aber Kreisky wurde den Ruf als Abtrünniger nie wieder los. Kurz darauf stieg er in die Nahostpolitik ein. Dass er sich als Jude und Chef einer österreichischen Regierung das Recht nahm, Kritik an der Besetzungspolitik Israels zu üben, die Forderungen der Palästinenser als legitim anzusehen und in den arabischen Staaten für eine gewaltfreie Lösung des Nahost-Konflikts zu werben, schaffte ihm unter den Juden fast nur Feinde. Israel erwartete von jedem Juden Loyalität. Kreisky schlug das kategorisch ab. Was fiel den Israelis ein? Er war doch Österreicher! Und außerdem Internationalist!

Er betrieb seine Nahost-Mission bis zuletzt mit zäher Entschlossenheit. Auch wenn er keine herzlichen Worte für den Judenstaat fand – er hatte Verwandte dort, Freunde, er verstand, warum Israel entstehen musste. Er fürchtete um die Existenz Israels und warnte vor der religiösen Radikalisierung der Palästinenser. Er setzte alles daran, die Streitparteien an einen Tisch zu bringen, aber dafür war sein Einfluss bei Weitem nicht ausreichend. Die Torpedierung seiner Anstrengungen durch die Israelis wie durch PLO-Chef Arafat gehörte zu seinen größten Enttäuschungen.

In der Fehde mit Simon Wiesenthal schließlich krachten zwei völlig gegensätzliche Einstellungen aufeinander, was als Judentum gelebt werden konnte. Wiesenthal stand der ÖVP nahe, war ein rechter Zionist, ein früherer Anhänger Jabotinskis, ein Mann, der ständig mit Geheimdiensten zu tun hatte, was Kreisky immer verabscheut hatte, und ein passionierter Feind der Sozialdemokratie. Unmittelbar nach den Wahlen 1975 ging Wiesenthal mit Akten über die Mitgliedschaft des FPÖ-Chefs Friedrich Peter bei einer SS-Mordbrigade an die Öffentlichkeit.


Dienen „wie ein Sonnenfels“

Kreisky explodierte förmlich. Peter war seit 1970 ein zuverlässiger Bündnispartner und der Exponent einer künftigen liberalen Partei, mit der Kreisky die ÖVP in Schach halten wollte. Er stellte sich vor Peter, ohne Wenn und Aber. Er sah seine Politik des Schweigens über die NS-Zeit, die auch vor ihm alle Regierungen geübt hatten, diskreditiert und sich selbst als Jude moralisch erpresst. Aus einer öffentlichen Debatte über Opfer und Täter konnte nur eine über seine Herkunft entstehen.

Die lange in Zaum gehaltene Wut, dass er als Jude politisch angreifbar und moralisch erpressbar war, brach wie ein Lavastrom hervor. Kreisky, der zu heftigen Zornausbrüchen neigte, wenn ihm etwas gegen den Strich ging, ließ sich zu wüsten Anwürfen gegen „die politische Mafia“ Wiesenthals hinreißen und unterstellte ihm indirekt die Kollaboration mit der Gestapo, übrigens eine gezielte Desinformation des polnischen Geheimdienstes. Wie ein Schwamm saugte er alle Gerüchte über den „Nazijäger“ auf, die ihm zugetragen wurden. Dass dieser ebenso wie er fast seine ganze Familie verloren, dass Wiesenthal mehrere Konzentrationslager überlebt hatte, zählte nichts. Kreisky hat sich immer als politischer und nie als jüdischer Verfolgter des Nationalsozialismus gesehen, eine sehr interne Differenzierung, ihm aber überaus wichtig.

Der Skandal ging um die Welt. Damit war die Sache aber nicht ausgestanden. Kreisky holte danach wiederholt zu Untergriffen aus, wenn er zu Juden und Israel befragt wurde. Nichts nahm er davon zurück. Auch nicht seine Haltung zu Friedrich Peter, der gleich nach Ausbruch des Streits in einem ORF-Interview zugab, dass seine Einheit, in der er „als Soldat seine Pflicht getan“ hatte, hinter der Front mit „Partisanenbekämpfung“ beschäftigt gewesen war.

„Ich möchte diesem Staat dienen“, sagte Kreisky im Februar 1970, „wie ein Sonnenfels Maria Theresia gedient hat.“ Josef Freiherr von Sonnenfels war der Sohn eines Rabbiners aus Nikolsburg in Mähren, der in Wien zum Katholizismus konvertiert war. ■

("Die Presse", Print-Ausgabe, 15.01.2011)


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