Redebedarf

Ich bin beim Abheben Team "Nie"

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100 Rätsel der Kommunikation, Folge 23. Die Digitalisierung hat eines gekillt: den richtigen Zeitpunkt, um zu reden.

Darf man immer anrufen? Nur, weil man technisch könnte? Früher war alles ziemlich klar geregelt: Ab 19 Uhr 30 bitte nicht, weil da wird ferngeschaut. Mit anderen Worten: Zeit im Bild. Schön, als der Alltag noch gleichgeschaltet war.  Auf FS1 und FS2. Aber was ist jetzt? Jeder macht, was ihm passt und noch dazu wann es ihm passt. ZIB 2 schauen nach Mitternacht? Und die ZIB um 9 Uhr extra eine Stunde später. Einfach, weil man kann. Digitales Empowerment. Man hat uns eines mitverkauft: die ständige Verfügbarkeit. Von Bier, Pizza und allem, was wir uns anhören oder anschauen wollen. In den ersten Jahren der Digitalisierung haben wir uns selbst auch gleich mit verkauft. Oder: unsere eigene Verfügbarkeit. Verheerend: Denn wenn der Mensch einmal in ein Konzept reingekippt ist, dann bleibt er so lange dabei, bis es ihm schadet. Das war schon so, als ihm das erste Mal das Fleisch ins Feuer gefallen ist. Seitdem sind viele tausende Jahre vergangen. Manche Menschen hängen nicht nur beim Essen gewohnten Mustern nach: Wenn es irgendwo klingelt, läutet oder vibriert, dann wird abgehoben. Egal, wo man ist, egal, was man tut. Doch die Jungen haben sich davon längst wieder emanzipiert. Abgehoben wird nicht mehr. Man will ja selber entscheiden, wann man den Content abruft. Die Jungen haben’s ja leicht. Sie haben ja keine alten Freunde.

Und genau um diese soll man sich ja wieder intensiver bemühen, heißt es. Ok, gut. Aber haben solche Beziehungen auch so etwas wie Geschäftszeiten? Kanzleien haben Kanzlei-Zeiten. Und Ärzte haben Sprechstunden. In denen darf man zwar wenig sagen, aber dafür lange darauf warten. Privat ist das nicht so klar. Man ist ja immer irgendwo. Und wie man weiß, ist ja irgendwas immer. Da brutzeln die Spiegeleier in der Pfanne, dampfen die Spaghetti-Töpfe und wollen die Kinder in die Badewanne. Ab 18 Uhr, hmm nicht so gut. Dann müssen die Kinder ins Bett, dann ist man viel zu müde um anzurufen oder angerufen zu werden. Danach ist es viel zu spät, um angerufen zu werden. Am nächsten Tag ist es viel zu früh, um angerufen zu werden. Danach ist es viel zu hektisch, um angerufen zu werden.

Ausgetrickst

Manche Freunde probieren es mit einem Trick: Sie rufen mich Freitagnachmittag aus dem Auto und dem Stau an. Und hoffen, dass ich auch gerade im Stau stehe. Ich heb natürlich nicht ab, ich fahre Schnellbahn. Da geht’s schon gar nicht. Ich bin beim Abheben Team „Nie“. Das Team „Immer“ dagegen hebt nur deswegen ab, um hektisch hechelnd zu signalisieren, dass es gerade ungünstig ist. Ich frage mich immer: Warum hebst du dann ab? Wenn du gerade im Meeting bist, beim Yoga, auf einem Pferd sitzt? Um mir zu sagen, dass du könntest, aber nicht kannst, weil du in der Steilwand hängst?

Doch die Digitalisierung ist ja nicht blöd. In ihrer gut gemeinten Service-Orientierung hat sie etwas erfunden, dass genauso gemein wie ein Anruf ist. Dafür hat der Anrufer nicht das Gefühl, dass er stören könnte. Die Sprachnachricht. Sie trickst alle aus... Das „Immer“ und das „Nie“. Weil man es dem Empfänger überlässt, wann er seine Ohren öffnen will. Empowerment à la Netflix. Nur: langweilige Nachrichten werden nicht besser, wenn man sie spätabends abruft. Oder weil man selbst entschieden hat, dass es jetzt Zeit dafür ist. Vielleicht sollte man wieder den Rhythmus ein wenig gleichschalten. Corona hat’s geschafft, dass zumindest wieder die ZIB durchgeschaltet wird auf zwei Kanälen. Vielleicht sollte man auch an anderer Stelle die Kommunikationszeiten synchronisieren. Es lebe der Jour-Fixe. Und die private Sprechstunde. Ich schlage vor: Samstag zwischen 10 und 11 Uhr. Da kann ja wirklich nix sein. Außer Einkaufen, Zeit für sich haben, Erdäpfel schälen, Rad reparieren. Und in der Zeitung lesen, dass man sich wieder um alte Freunde bemühen sollte.

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