Bebenkatastrophe

Erdbeben in der Türkei: "Mein kleiner Sohn schrie, dass er sterben will"

Ein „letztes Spielzeug“ für die getöteten Kinder. Der Türke Ogun Sever Okur befestigt in Antakya Ballons in den Ruinen.
Ein „letztes Spielzeug“ für die getöteten Kinder. Der Türke Ogun Sever Okur befestigt in Antakya Ballons in den Ruinen.APA/AFP/SAMEER AL-DOUMY
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Sie erlebten den Krieg in Syrien und hofften, in der Türkei Sicherheit zu finden. Doch jetzt stehen viele syrische Flüchtlinge erneut vor den Trümmern ihrer Existenz. Eine Reportage.

Antakya. Es riecht nach Zementstaub, dem so typischen Geruch massiver städtischer Zerstörung, wie bei einem Krieg oder eben auch nach einem Erdbeben. Ein Bagger versucht in der umliegenden Schuttwüste Antakyas ein wenig Ordnung zu schaffen, zwischen Beton, Stahl und den persönlichen Erinnerungen so vieler Menschen. Jemand hat eine zerbrochen Vitrine an den Straßenrand gestellt, darauf zahlreiche Fotos und Alben, die in dem Schutt gefunden werden; falls die Besitzer noch einmal vorbeikommen und nach irgendetwas suchen, das sie an die einstigen Bewohner dieser Häuser erinnert. Wenn die Menschen, denen die lachenden Gesichter auf den Bildern von Familienfeiern und Schulklassen gehören, überhaupt noch leben.

Manchmal zieht noch Leichengeruch über das kleine Zeltlager in der Innenstadt Antakyas, jener Stadt, die einst über 300.000 Menschen beherbergte und von der praktisch nichts mehr übrig ist. Es besteht aus ungefähr 40 Zelten, die vom türkischen Katastrophenschutz aufgebaut wurden. Und da sitzen sie: Dutzende Familien und warten apathisch vor ihren Zelten darauf, was dieser Tag bringen mag. Sie haben überlebt, auch wenn sie das selbst oft nicht als ein Privileg betrachten – und sie sind traumatisiert.

Die Kinder waren in Panik

Hier leben die, die kein Geld haben, das Erdbebengebiet zu verlassen, die keinen anderen Zufluchtsort haben, die Ärmsten der Armen, Türken und Türkinnen und auch viele syrische Flüchtlingsfamilien. Die Mittelklasse und die Oberschicht, die haben diese Schuttwüste schon lang verlassen.

Es habe auch einen Vorteil im Zelt zu leben, sagt die Syrerin Amara Haskira und versucht gute Miene zum bösen Spiel zu machen. Als die Erde vor einigen Tagen erneut gebebt hat, da hatte sie keine Angst, weil sie ein Zeltdach statt einer Zementdecke über dem Kopf hatte. Der Zeltstoff, der sie nachts kaum vor der Kälte schützt, ist bei einem Beben keine Gefahr. Aber die Reaktion ihrer Kinder zeigte, wie tief die seelischen Wunden sind. „Als es wieder losging, wollten die Kinder rauslaufen. Ich habe sie alle an mich gedrückt, wie eine Taube, die ihre Flüge über ihre Kinder legt. Draußen haben alle geschrien. Die Kinder riefen, Mama die Erde wird unter uns aufreißen. Ich habe sie versucht zu beruhigen“, beschreibt Amara, die Mutter von vier Kindern, diesen Moment. Sie deutet auf ihren vielleicht sechsjährigen Sohn. „Schau wie klein er ist, er schrie, dass er endlich sterben will, warum passiert das immer wieder?“
Was hat er erlebt, wenn ein Sechsjähriger sterben will? „Meine Kinder haben in Syrien nur Krieg erfahren und jetzt das. Sie haben nie gespürt, was Leben bedeutet“, meint Amara.

Neben ihr steht ein Mann, der sich als Firas Abu Yussuf vorstellt. Sein Arm ist in Gips und geschient, seine andere Schulter in einer Schlaufe. Er war vor zwei Wochen aus den Trümmern seines Hauses geborgen worden. Er zieht die Todesurkunde seiner achtjährigen Tochter aus seiner Tasche, ein zusammengefaltetes, leicht geknülltes Papier, weil es so oft auf- und wieder zusammengefaltet wurde. Es ist einzige Erinnerung an seine Tochter. Als das zweite Erdbeben Tage später die Stadt erneut erschütterte, dachte er nur: „Gott, bitte lass sie keine weitere Todesurkunde eines meiner weiteren Kinder ausstellen“, erzählt er. Es ist diese Mischung aus Trauer über den Verlust der Liebsten und Sorge um das Wohl der Überlebenden, die hier alle beschäftigt und die den Menschen kaum Zeit gibt, nach vorn zu blicken.

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