Migration

Ruud Koopmans: "Europas Asylsystem ist moralisch bankrott"

(c) APA/AFP/ALESSANDRO SERRANO (ALESSANDRO SERRANO)
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Aus der verhängnisvollen ungesteuerten Flüchtlingspolitik sieht der niederländische Migrationsforscher nur noch einen Ausweg. Und der ist radikal.

Herr Koopmans, Sie bezeichnen in Ihrem neuen Buch „Die Asyl-Lotterie“ das europäische Asylsystem als “todkrank”. Wer todkrank ist, stirbt bald - stehen wir vor dem Zusammenbruch?

Das System kann man natürlich aufrecht erhalten, aber die Menschen sterben. Mehr als 25.000 sind seit 2014 auf der Flucht nach Europa gestorben. Das Risiko, dabei im Mittelmeer umzukommen, ist größer als das Risiko, durch Krieg zu sterben. Das ist pervers. Es kann nicht das Ziel sein, Menschen Risiken auszusetzen, die größer sind als die, vor denen wir die Menschen schützen wollen. Das System wird seinem moralischen Anspruch nicht gerecht, ganz im Gegenteil. Es verursacht mehr Leid, als es lindert.

Sie verwenden das Bild der „Asyl-Lotterie”. Das klingt, als wäre es Zufall, wer nach Europa gelangt und hier bleiben kann. Gleichzeitig nennen Sie doch einige wesentliche Faktoren, die darüber entscheiden.

Die Lotteriemetapher habe ich benutzt, um die Willkür zum Ausdruck zu bringen, weil eben nicht die Schutzbedürftigkeit entscheidet. Aber es ist natürlich keine Lotterie mit gleich verteilten Chancen, eher ein Würfelspiel mit gezinkten Würfeln. Die Älteren, die Kranken, die Ärmeren, die, die sich die Schmuggler finanziell nicht leisten können, die Frauen, die Familien mit Kindern - die schaffen es alle nicht nach Europa. Es sind die Jungen, Gesunden, Männer aus vergleichsweise wohlhabenderen Familien, und zwar aus jenen Länden, aus denen es einen Weg nach Europa gibt. Der schrecklichste und wohl folgenreichste Bürgerkrieg der Welt ist der in Jemen, aber die Jemeniten sitzen buchstäblich in der Falle. Um sie herum gibt es kein einziges Land, das sie aufnehmen kann oder will. Da ist Saudi-Arabien, das selbst Kriegspartei ist, da ist das Rote Meer, da sind Somalia und Eritrea, wo es fast genauso schlimm ist wie in Jemen. Jemenitische Flüchtlinge melden sich kaum in Europa - sie schaffen einfach den Weg nicht.

Wer so viel riskiere, habe in jedem Fall gewichtige Gründe und dürfe daher nicht abgewiesen werden, lautet ein Argument. Was antworten Sie da?

Relativ gesehen sind es dennoch nicht die Schutzbedürftigsten. Das gilt umso mehr, wenn wir auf afrikanische Länder ohne Bürgerkrieg und politische Verfolgung schauen, vor allem in Westafrika. Natürlich gibt es eine große Wohlstandskluft zwischen Westafrika und Europa. Aber die Menschen, die sich dort auf den Weg machen, stammen eher aus der Mittelschicht. Aus Nigeria kommen die meisten Asylbewerber aus dem Süden des Landes, einer zumindest für nigerianische Verhältnisse wohlhabenderen Region. 

Meist werden ihre Asylanträge abgewiesen. Wie hoch ist der Prozentsatz abgelehnter Asylbewerber, die tatsächlich wieder Europa verlassen müssen?

Wir wissen natürlich nicht ganz genau, wie viele Menschen hier untertauchen oder dann doch freiwillig zurückgehen, ohne sich abzumelden. Aber aus den Zahlen etwa der Personen, die registriert sind und offiziell ausreisepflichtig, die abgelehnt sind, aber eine sogenannte “Duldung” bekommen und so weiter, geht klar hervor: Von den abgelehnten Asylbewerbern kann nur ein ganz kleiner Bruchteil tatsächlich zurückgeführt werden. Fast immer gilt: Wer bleiben will, kann bleiben.

Wie viel wissen Menschen, die den Weg über das Mittelmeer wagen, über die Höhe des Risikos?

Wir forschen sehr viel in Westafrika, in Senegal, Gambia und Nigeria, dort haben wir die Menschen auch danach gefragt. Sie schätzen das Risiko sogar höher ein, als es wirklich ist. Sie wissen aber auch, dass nahezu jeder, der es nach Europa geschafft hat, dauerhaft bleiben kann, weil es Europa nicht gelingt, abgelehnte Asylbewerber zurückzuführen. Und sie haben überzogene Vorstellungen davon, wie einfach es ist, in Europa einen gut bezahlten Job zu bekommen, unterschätzen auch die Lebenshaltungskosten. 

Der einzige Ausweg in Ihren Augen besteht darin, das individuelle Asylrecht in Europa stark einzuschränken und dafür ebenso viele oder mehr Menschen über humanitäre Kontingente in die EU zu holen. Ein weniger radikaler Weg ist für Sie nicht denkbar? 

Nein. Wir müssen es schaffen, die irreguläre Fluchtzuwanderung stark zu begrenzen und damit die Kapazitäten frei zu machen, um Menschen gezielt aus Krisen- und Verfolgungsregionen zu uns zu holen. Ziel ist, wirklich denen zu helfen, die am meisten schutzbedürftig sind, und bei der Auswahl auch die Sicherheitsbedürfnisse Europas zu berücksichtigen, wie es Kanada oder Australien tun. Sie bitten die UNHCR um eine Sicherheitsüberprüfung, damit keine Terroristen-Sympathisanten oder Kriminelle versuchen, über den Fluchtweg nach Europa zu gelangen.

Der australische Weg wurde noch vor zehn Jahren in Europa als unmenschlich kritisiert.

Australien hat das Sterben auf den Seewegen vollständig beendet, zugleich ziemlich große humanitäre Kontingente aufgenommen, hat auch ein humanitäres Visaprogramm, setzt also keineswegs nur auf Abschottung. Letztendlich nimmt es im Schnitt genauso viele Flüchtlinge auf wie Deutschland, die Niederlande oder Dänemark. Aber es stimmt, noch vor zehn Jahren dachte niemand im Entferntesten daran, das als Beispiel für Europa zu sehen. Gut, dass wir heute weiter sind, denn inzwischen sind weitere 25.000 Menschen auf dem Seeweg nach Europa gestorben. Das sollte uns endlich umdenken lassen.

Wie leicht ist die Organisation der Aufnahme über humanitäre Kontingente?

Dieser Teil des Vorschlags ist sehr leicht umzusetzen. Der Mechanismus steht schon, das macht man mit dem UNHCR, mit den Flüchtlingslagern in den Erstaufnahmeländern, es gibt etablierte Kriterien, wie man die Leute auswählt. Länder wie Deutschland und Österreich nehmen auch jetzt schon Menschen auf diesem Weg auf, allerdings nur ganz wenige, in Deutschland sind es vielleicht ein paar Tausend pro Jahr. Schwer umzusetzen ist, wie man parallel dazu die irreguläre Migration zurückdrängt. Aber auch da mache ich konkrete Vorschläge.

Welche sind hier für Sie die wichtigsten Maßnahmen?

Wenn wir großzügige Kontingente für die Aufnahme von Schutzbedürftigen direkt aus den Krisenregionen vereinbart haben, sollten diejenigen, die sich spontan, an diesen Kontingenten vorbei, an den europäischen Grenzen melden, nicht länger die Möglichkeit bekommen, in Europa Asyl zu beantragen. Ein Recht auf die Überprüfung eines Asylantrags haben sie nach internationalem Recht, aber es ist nirgendwo festgelegt, dass sie sich aussuchen können, wo sie dieses Recht verwirklichen können. Deshalb sollten wir Abkommen mit Drittstaaten schließen, wo diese Asylverfahren durchgeführt werden können. Im Tausch bekommen diese Länder legale Migrationsmöglichkeiten für ihre Bürger. Diese Drittstaaten müssen natürlich die Standards des internationalen Flüchtlingsrechts einhalten. Das muss man verhandeln und überprüfen. Kandidaten dafür wären zum Beispiel Tunesien oder Senegal.

Egal, wie man es anpackt, die Zurückdrängung der illegalen Migration geht nicht ohne Härte. Auch das ist ein hoher Preis.

Es gibt nur eine Alternative dazu - man macht einfach die Grenzen auf. Auch dann hat man das Problem mit den Toten im Mittelmeer gelöst. Allerdings sind allein in Westafrika Dutzende Millionen bereit oder haben sich sogar schon darauf vorbereitet, nach Europa zu ziehen, wenn sie die Möglichkeit haben. Dann muss man auch Massenarmut und amerikanische Verhältnisse in Europa akzeptieren. Wenn man als Progressiver Europas Wohlfahrtssysteme erhalten möchte, ist das keine realistische Option. 

Allein schon die Schaffung regulärer Migrationskanäle würde die irreguläre Zuwanderung eindämmen, argumentieren manche.

Das ist magisches Denken. Alle uns bekannten Fakten und Forschungsergebnisse besagen das Gegenteil. Das bestbelegte Gesetz in der Migrationsforschung ist das der Kettenmigration: Je mehr Menschen aus einem Land kommen, desto mehr Menschen reisen nach.

Sie bezeichnen Ihren Reformvorschlag als „realistische Utopie”. Das ist ja ein Widerspruch in sich. Was ist also das Utopische daran?

Der Plan ist machbar, politisch gesehen trotzdem etwas utopisch. Denn dafür müssen die Parteien auf beiden Seiten des Grabens, den es heute in der Migrationsdebatte gibt, bereit sein, über ihren Schatten zu springen, Kompromisse einzugehen und die Sichtweise der anderen Seite ernst zu nehmen. Die einen müssen einsehen, dass es nicht darum gehen kann, nur wenige Flüchtlinge aufzunehmen, sondern um gezielte Auswahl derer, die es am meisten brauchen. Die anderen müssen eingestehen, dass wir mit der jetzigen Flüchtlingspolitik ernsthafte Sicherheits- und Integrationsprobleme haben, die zu Recht Menschen verunsichern. Diese Verunsicherung erlaubt es den Rechtspopulisten, das Asylthema für ihre Wählermobilisierung zu gebrauchen, weil die übrigen Parteien in einer Verneinungspolitik feststecken und immer noch tun, als gäbe es diese Probleme nicht.

Sehen Sie in Europa Ansätze zur Überbrückung des politischen Grabens?

Die sozialdemokratische Regierung in Dänemark verfolgt teilweise das, was ich vorschlage. Sie betreibt die Verlagerung von Asylverfahren in Drittstaaten und will dann auch die Aufnahmekontingente über die UNHCR erhöhen. Zumindest dort ist es also gelungen, den politischen Graben zu überbrücken. Ein anderes Beispiel ist Deutschland, wo die Ampelkoalition jetzt zumindest die Möglichkeit der Verlagerung von Asylverfahren in Drittstaaten prüft.

In der Migrationsdebatte wurde die längste Zeit “Moral” gegen “Unmoral” in Stellung gebracht. Könnte man sich letztendlich über die Moral treffen?

Zur Person

Man muss die Moralisierung ernst nehmen, weil es auch um Moral geht. Dass aber Migrationspolitik im Allgemeinen und besonders Flüchtlingspolitik so emotional aufgeladen ist, steht pragmatischen Lösungen im Weg. In meinem Buch konfrontiere ich die Flüchtlingspolitik mit ihren eigenen moralischen Zielsetzungen. Und da muss man eingestehen, dass das herrschende System nicht verteidigbar ist. Es ist moralisch bankrott und in diesem Sinn wirklich todkrank.Ruud Koopmans, geboren am 2. Februar 1961 in Uithoorn, ist Professor für Soziologie und Migrationsforschung an der Humboldt-Universität zu Berlin und Vorsitzender des Kuratoriums des Deutschen Zentrums für Integrations- und Migrationsforschung (DeZIM), Berlin.

Er studierte in den Niederlanden Ökologie und Politikwissenschaft. Außerdem engagierte er sich bei den niederländischen Grünen, bis deren Fraktionsvorsitzender Mohamed Rabbae 1994 für ein Verbot von Salman Rushdies Buch „Die satanischen Verse" eintrat.

Von 2003 bis 2010 war er Professor für Soziologie an der Vrije Universiteit Amsterdam. Ab 2007 leitet er in Berlin am WZB die Abteilung Migration, Integration und Transnationalisierung. 2010 erschien bei C.H. Beck „Das verfallene Haus des Islam. Die religiösen Ursachen von Unfreiheit, Stagnation und Gewalt“.

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