Gastkommentar

Europas Wirtschaft widersteht dem Krieg – vorerst

Ökonomisch hat die EU den Ukraine-Krieg viel besser verkraftet als erwartet. Solange sie ihre wirtschaftliche Macht aber nicht in politischen Einfluss übersetzen kann, bleibt sie anfällig für Schocks von außen. Die EU-Integration der Ukraine wird dafür zum Lackmustest.

Kollabierende Industrien, Massenarbeitslosigkeit, Rekordinflation. Nach dem brutalen Überfall Russlands auf die Ukraine war die Angst groß, dass die EU in eine katastrophale Rezession schlittern würde. Die 27 EU-Mitglieder hatten ihren Wirtschaftskrieg gegen den Aggressor Russland zu einem Zeitpunkt begonnen, als sie noch immer an den Folgen der Covid-19-Pandemie laborierten.

Der Autor

Richard Grieveson, MA, geboren 1984 in Großbritannien, ist Ökonom und stellvertretender Direktor des Wiener Instituts für Internationale Wirtschaftsvergleiche (wiiw).

In der Tat war der anfängliche wirtschaftliche Schock beträchtlich, insbesondere durch die explodierende Inflation. Diese war zwar auch schon vor dem Krieg hoch, die Entscheidung Putins, als Reaktion auf die Sanktionen den Großteil der Gaslieferungen nach Europa zu stoppen, ließ die Situation aber eskalieren und führte zu einem massiven weiteren Anstieg der Energiepreise.

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Der befürchtete wirtschaftliche Einbruch blieb dennoch aus. Nach den jüngsten Prognosen der EU-Kommission wird die Europäische Union heuer eine Rezession vermeiden können. Zudem geht die Kommission davon aus, dass auch die Inflation ihren Höhepunkt bereits überschritten hat. Die Arbeitslosigkeit ist gering und es gibt kaum Anzeichen für einen akuten Gasmangel.

Wie konnte das gelingen? Für die relative Widerstandsfähigkeit der EU gibt es mehrere Gründe. Erstens war der Anstieg der Gaspreise nicht von langer Dauer. Seit ihrem Höchststand im August 2022 sind sie bereits wieder um 85 Prozent gefallen, auch wenn das die Konsumenten erst zeitverzögert spüren. Gaslieferungen von anderen Lieferanten wie den USA und Norwegen haben dabei geholfen. Auch die Ölpreise sanken mittlerweile wieder beträchtlich. Putins Strategie, Energie als Waffe einzusetzen, ist also kläglich gescheitert.

Zweitens haben die Volkswirtschaften der EU ein beeindruckendes Maß an Resilienz an den Tag gelegt. Zwar hat der warme Winter die Situation zusätzlich entspannt, bei der Inflation auch die schwache Nachfrage aus China. Ausschlaggebend war aber dennoch der ökonomische Anpassungsprozess, insbesondere in der Industrie. Während laut dem Brüsseler Think Tank Bruegel der Gasverbrauch in der Industrie EU-weit 2022 gegenüber dem Durchschnitt der letzten drei Jahre im Schnitt um 15 Prozent gesunken ist, lag die Industrieproduktion in der EU im Dezember 2022 leicht über dem Vorkriegsniveau.

Drittens haben die Regierungen zahlreiche Maßnahmen ergriffen, um die Auswirkungen des Energiepreisschocks in Grenzen zu halten. Ihre Logik und Wirksamkeit sind teilweise zwar fragwürdig, haben die Gasnachfrage künstlich hochgehalten, und sind auf Dauer wohl nicht zu finanzieren. Trotzdem haben sie die EU-Bevölkerung vor dem Schlimmsten bewahrt.

Zudem fand die Invasion zu einem Zeitpunkt statt, an dem sich die Europäer mit Ausnahme von Energie und Rohstoffen bereits weitgehend von Russland abgekoppelt hatten. Dieser Abkopplungsprozess begann bereits 2014 nach der Annexion der Krim, als die EU die ersten Sanktionen gegen Russland verhängte.

Rivalität China – USA negativ für Europa

Obwohl die EU bisher also besser als erwartet durch die Krise gekommen ist, gibt es wenig Anlass für Selbstzufriedenheit. Vor ihr liegen schwierige Monate. Der Krieg und seine Folgen werden in Kombination mit einer sich verschärfenden Rivalität zwischen China und den USA die Europäer vor enorme ökonomische Probleme stellen.

Doch wie sieht ihre wirtschaftliche Zukunft aus? Einerseits werden wir uns in Europa an dauerhaft höhere Energiepreise gewöhnen müssen. So liegt etwa der Erdgaspreis trotz einem massiven Rückgang seit dem letzten Sommer noch immer um mehr als das Doppelte über seinem langfristigen Niveau. Russlands enorme Vorräte werden dem Markt auf Dauer entzogen bleiben. Die Erholung der chinesischen Wirtschaft nach dem Ende von „Zero-Covid“ dürfte die Energiepreise zudem wieder in die Höhe treiben. Dauerhaft teure Energie gefährdet allerdings die Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Industrie und birgt die Gefahr von Produktionsverlagerungen.

Zum anderen haben die vom Freihandel abhängigen Volkswirtschaften der EU in Zeiten eines sich zuspitzenden Konflikts zwischen den USA und China viel zu verlieren. Auch wenn die mancherorts erklingenden Abgesänge auf die Globalisierung verfrüht erscheinen, werden die wachsenden Spannungen die etablierten Lieferketten durcheinanderbringen. Damit dürfte auch die Inflation in Europa dauerhaft auf einem deutlich höheren Niveau verharren als in den 15 Jahren vor dem Krieg.

Ukrainischer EU-Beitritt als Zäsur

Die vielleicht größte Herausforderung für die EU besteht jedoch in den Auswirkungen des Krieges auf den europäischen Integrationsprozess. Dabei geht es vor allem um einen möglichen EU-Beitritt der Ukraine, die seit 2022 offiziell Beitrittskandidat ist. Die Ukrainer kämpfen heldenhaft gegen den Aggressor Russland und verdienen jede mögliche Unterstützung der EU, um nach dem Krieg eine möglichst starke Wirtschaft aufzubauen. Aber ihre Größe und ihr ökonomischer Entwicklungsstand machen den EU-Beitritt der Ukraine zu einer ganz anderen Herausforderung als den der Westbalkanländer. Schon bei Letzteren ist der Integrationsprozess in den vergangenen Jahren massiv ins Stocken geraten, der Einfluss Chinas und Russlands wächst. Auch wenn in absehbarer Zeit kein Land am Westbalkan der EU beitreten wird, muss die EU viel mehr tun, um ihre wirtschaftliche Integration zu vertiefen, ihre ökonomische Entwicklung zu forcieren und so die eigenen Interessen in der Region zu wahren.

Das zeigt auch eine neue Studie, die wir gemeinsam mit der Bertelsmann Stiftung auf der Münchner Sicherheitskonferenz präsentiert haben. Sie führt vor Augen, dass die EU ihren wirtschaftlichen Einfluss in ihrer Nachbarschaft stärker nutzen sollte, um die dortige Entwicklung in ihrem Sinne zu beeinflussen. Das bedeutet auch, dass der Westbalkan und die Staaten der europäischen Nachbarschaft wie die Ukraine, Moldawien und Georgien wirtschaftlich stärker integriert werden müssen. Dazu braucht es für sie einen besseren Zugang zum EU-Markt, verstärkte Hilfen aus dem EU-Budget und höhere Infrastrukturinvestitionen. Auch sollte die EU alles dafür tun, damit diese Länder ihre Chancen auf die Ansiedelung produzierender Industrien aus den Kernländern der EU (Nearshoring) nutzen können. Ein verstärktes Engagement der EU muss jedoch an strenge Auflagen für politische und wirtschaftliche Reformen sowie eine enge Partnerschaft mit den USA und anderen Demokratien geknüpft werden. Der Krieg in der Ukraine hat die Bedeutung der Allianz zwischen der EU und den USA vor Augen geführt. Wenn es der EU dennoch nicht gelingt, endlich strategisch zu handeln und die Integration mit den Nachbarländern zu vertiefen, um die dortigen politischen und wirtschaftlichen Entwicklungen im eigenen Interesse zu beeinflussen, wird sie auch in Zukunft anfällig für Schocks aus ihrer Nachbarschaft bleiben. Das gilt es zu verhindern – im Interesse von uns allen.

E-Mail: debattte@diepresse.com

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