Nachbarschaft

Drei Ethnien, eine gemeinsame Geschichte

Österreicher und Tschechen sowie die Sudetendeutschen sind durch eine tausendjährige Geschichte verbunden. Zu oft und zu lang wurden die vielen Gemeinsamkeiten übersehen, sagt der Osteuropahistoriker Suppan.

Arnold Suppan spricht von einer „trilateralen Zusammenschau“, wenn er sich auf die Geschichte und das Leben der Österreicher, Tschechen und Sudetendeutschen bezieht. Der Osteuropahistoriker, bis vor Kurzem Vizepräsident der Akademie der Wissenschaften, verleiht damit den über Jahrhunderte in den böhmischen Ländern lebenden Deutschsprachigen eine eigene Identität, gleichsam ein gesondertes Volkstum.

Nun legt Suppan in seiner fast 1000 Seiten umfassenden Publikation „1000 Jahre Nachbarschaft“ neue Ansätze und Beurteilungen zu den wechselhaften Beziehungen dieser drei Ethnien vor. „Es war eine Entwicklung parallel, nur selten abstoßend“, sagt er zum Zusammenleben bis Anfang des 20. Jahrhunderts. Vom Hochmittelalter an befanden sich Böhmen und Österreich im gleichen (deutschen) Reich. Stadt- und Klostergründungen, Gewerbe und Handel entwickelten sich im Gleichklang.

Dem Einvernehmen folgten freilich auch schwere Auseinandersetzungen, der erste, bis ins vorige Jahrhundert nachwirkende Bruch vollzog sich durch die Lehren von Jan Hus und die Hussitenkriege im 15. Jahrhundert. Den Prager Fenstersturz und damit den nachfolgenden 30-jährigen Krieg sieht der Historiker nicht als Beginn einer 300-jährigen Fremdherrschaft der Habsburger, wie dies später tschechische Nationalisten behaupteten. Denn damals kämpften auf der Seite der katholischen Liga Angehörige von zehn Nationen, unter ihnen Österreicher und Tschechen. Und in den Reihen der protestantischen Union fanden sich acht Nationen, darunter wiederum Tschechen und Oberösterreicher.

Die Tschechen stellten lange Zeit nicht die Mehrheit in den böhmischen Ländern. Erst nach dem Verlust Schlesiens unter Maria Theresia (ca. 86 Prozent dieses Gebietes fiel auf Dauer an Preußen) gewannen die Tschechen die Oberhand. Das Verhältnis der Volksgruppen änderte sich in der Folgezeit kaum. Nach der Volkszählung von 1910 lebten in den böhmischen Ländern (Böhmen, Mähren, Österreichisch-Schlesien) 6,3 Mio. Tschechen, 3,5 Mio. Deutsche und 242.000 Polen.

Keine Einigung Wien–Prag

Für das vergangene Jahrhundert hat Suppan US-Archive sowie jene in Paris, London, Wien und Prag – darunter auch bis vor kurzer Zeit gesperrte Quellen des KP-Archivs – durchforstet. Aus den Protokollen und Unterlagen ergibt sich, dass nicht nur Paris und London, sondern auch Wien und Prag den Aufstieg Adolf Hitlers falsch eingeschätzt haben. Der Präsident der Tschechoslowakischen Republik, Milan Hodža, und Österreichs Bundeskanzler, Kurt Schuschnigg, konnten sich auf keine gemeinsame Vorgangsweise einigen. „Das Misstrauen zwischen Prag und Wien war zu groß“, sagt Suppan.

Das Münchner Abkommen im September 1938, das NS-Regime im Protektorat Böhmen und Mähren und die Beneš-Dekrete nehmen in Suppans Buch einen breiten Raum ein. Ein Detail dürfte aber neu sein: Auf der einen Seite übte die SS im Protektorat eine harte Gewaltherrschaft aus, auf der anderen Seite war für die deutsche Kriegswirtschaft die tschechische Industrie von eminenter Bedeutung. Deswegen wurden die tschechischen Arbeiter bessergestellt, sie erhielten Kinokarten und ihre Kinder Ferienplätze.

Für das künftige Verhältnis zieht Suppan Aussagen des Prager Präsidenten Václav Havel heran. „Die Vergangenheit kann nicht unser Programm sein“, sagte er im Jahr 2000 an der Universität Wien. Es gehe um gemeinsame neue Herausforderungen.

("Die Presse", Print-Ausgabe, 11.03.2023)

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