Culture Clash

Gefühl, Geschlecht und Recht

Je freier man seine Geschlechtsidentität wählen kann, umso bedeutungsloser wird sie rechtlich. Denn für Rechte braucht es objektiv fassbare Tatsachen.

Vor zwei Wochen hat – kaum beachtet – das Verwaltungsgericht Wien im Personenstandsregister bei der Kategorie „Geschlecht“ auch den Eintrag „divers“ zugelassen. Antragsteller müssen dafür keinen Sachverhalt beweisen, die „bloße Willenserklärung“ genügt. Es gehe um das Geschlecht, dem „sich eine Person zugehörig fühlt“. Eine solche „individuelle Entscheidung“ könne nur der Betroffene vornehmen und kein Dritter, etwa ein Gutachter. Auch das Selbstbestimmungsgesetz, das in Deutschland zum Beschluss ansteht, will die Pflicht streichen, für die Änderung des Geschlechtseintrags eine bestimmte Lebensweise, ein ärztliches Attest oder einen physischen Eingriff vorweisen zu müssen.

Es ist verständlich, dass man Menschen Verhöre über ihr Intimleben ersparen und sie nicht zu Kranken stempeln möchte. Aber mit der freien Wählbarkeit der amtlichen Geschlechtsidentität kommt ein fremdes Element in unser Rechtswesen: das Gefühl. Bisher waren Angaben in Pass und Personenstandsregister ausnahmslos überprüfbare Tatsachen: Ob sich jemand als Weltbürger begriff, hat bei „Nationalität“ genauso keine Rolle gespielt wie bei „Geburtsdatum“ die Frage, wie alt sich jemand fühlt. Es ging um eine harte Basis objektiver Merkmale, auf der man Rechte und Pflichten zuweisen und Individuen eindeutig identifizieren konnte.

In der aktuellen Rechtsfrage geht es aber gar nicht um Rechten und Pflichten, sondern um das wahre Ich. Dass ein Mensch sich nach Ganzheit sehnt und danach, von der Gesellschaft ganz angenommen zu werden, und das offiziell festgehalten haben will, ist ja auch okay. Aber bisher waren Personenstandsregister dafür nicht zuständig. Sondern dafür, dass man nachschauen kann, ob jemand etwas darf. Sie zur Selbstbeschreibung der Bürger zu nützen, bringt Unordnung in eine Rechtsordnung, zumal in eine, die anderswo, wenn sie auf das Geschlecht abstellt, nicht die gefühlte Identität, sondern die biologische Realität vor Augen hat: etwa bei der Frauenförderung oder dort, wo es gilt, Frauen vor Männern zu schützen.

Und so real die eigene Situation für jeden Betroffenen auch ist: Selbstaussagen ohne überprüfbare Wirklichkeit sind nicht dazu geeignet, Rechte und Pflichten zu begründen, und werden damit für den Staat unerheblich. Folgerichtig hat die Bioethikkommission des Bundeskanzleramtes (wie auch das deutsche Bundesverfassungsgericht) schon 2017 darüber nachgedacht, den amtlichen Geschlechtseintrag komplett zu streichen. Aber sind wir wirklich schon eine Gesellschaft, in der das Geschlecht reine Privatsache ist?

Der Autor war stv. Chefredakteur der „Presse“ und ist nun Kommunikationschef der Erzdiözese Wien.

meinung@diepresse.com

www.diepresse.com/cultureclash

("Die Presse", Print-Ausgabe, 12.03.2023)

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