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Die Träume der anderen

A couple sits under an umbrella for shade from the sun at the beach in La Jolla, California
A couple sits under an umbrella for shade from the sun at the beach in La Jolla, CaliforniaREUTERS
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Die großen Träume im Leben – sind sie wirklich die eigenen? Oder haben wir sie irgendwann einfach übernommen?

Es gibt da ein Phänomen, das zu begreifen ich 20 Jahre gebraucht habe – das sich zu Eigen machen von Träumen, Wünschen und Sehnsüchten anderer Menschen. Natürlich nicht irgendwelchen Menschen, sondern von jenen, die man schätzt, respektiert, bewundert, liebt. Die Zuneigung zu dieser Person ist so stark, dass man irgendwann glaubt, selbst das zu wollen, was sie will. Auswandern zum Beispiel. Aufs Land ziehen. Oder in die Stadt. Veganer werden. Eine neue Sportart beginnen. Kinder bekommen. Auf Kinder verzichten.

Tatsächlich kann dieses Annehmen des Wesens von jemandem so weit gehen, dass man seine eigenen Bedürfnisse nach und nach vernachlässigt, bis man irgendwann gar nicht mehr weiß, welche Ziele eigentlich noch die eigenen sind und welche man jemandem zuliebe verfolgt. Nun stellt das in „Friedenszeiten“ nicht unbedingt ein Problem dar. Hauptsache, es funktioniert. Wie bei einem Workaholic, solange er seinen Job nicht verliert. Oder einem Spitzensportler, solange er sich nicht verletzt. Darin liegt aber auch die Krux. Was, wenn der Workaholic arbeitslos wird? Der Spitzensportler eine schwere Verletzung erleidet? Genau, sie alle laufen Gefahr, vor dem Nichts zu stehen und in ein tiefes Loch zu fallen.

Wie jene Menschen, die die Träume von jemand anderem gelebt haben, und plötzlich ohne diese Person dastehen. Diese Erfahrung gehört zu den bittersten im Leben. Das Gefühl, alles auf eine Karte gesetzt – und verloren zu haben. Ja, schon klar, alles auf eine Karte zu setzen ist nie eine gute Idee. Niemand sollte sein Glück von einer Person, einem Job oder einer Leidenschaft abhängig machen. Damit das Fundament auch dann noch steht, wenn eine Säule wegbricht.

Aber wir alle wissen auch, wie schwierig das ist, und wie groß die Verlockungen sind, sich sehr wohl auf einen Pfeiler zu verlassen – in der Hoffnung, dass er für immer hält. Das tut er aber in den seltensten Fällen. Und man bleibt zurück mit der Erkenntnis, jederzeit vor einem erzwungenen Neuanfang stehen zu können. Ganz egal, für wie gefestigt, komplett und unerschütterlich man sein Leben bis dahin gehalten hat.

E-Mails an: koeksal.baltaci@diepresse.com

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