Literatur

Wie Russland zur Un-Heimat wurde

Dmitry Prigows Erzählung „Katja chinesisch“: Wie entsteht Erinnerung vor dem Hintergrund der Grausamkeiten des 20. Jahrhunderts?

Man kann sich vorstellen, dass Dmitri Prigow, der große russische Konzeptkünstler, immer wieder aus der Zeit fällt. Als er vor der Perestroika Moskau mit Zetteln „An die Bürger“ überzog, steckte das Regime ihn in die Psychiatrie – jetzt, fünfzehn Jahre nach seinem Tod, der ihm immerhin das Wiedererkennen eines megalomanen Staatsapparats erspart hat, werden wohl politkorrekte Gruppen die Zeigefinger heben: Aneignung! Da schreibt ein Mann, noch dazu ein alter Russe, über ein junges Mädchen, noch dazu eines, das laut Titel „chinesisch“ ist, ohne Chinesin zu sein.

Das wahrlich Überraschende an diesem Buch – vor allem vor dem Hintergrund der patriarchal geprägten Variante russischer Literatur, die sich mit den Langbartträgern Tolstoj und Dostojewski ins globale Gedächtnis eingeprägt hat – ist die berückende Zartheit, mit der Prigow das Bild von Katja zeichnet, deren Name nirgendwo fällt. Stets ist sie „das Mädchen“; Christiane Körner bleibt mit der wunderbaren Nonchalance, mit der sie Prigows Ton eingefangen hat, in der deutschen Fassung bei diesem grammatikalisch inkorrekten, aber respektvollen „sie“.

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