Wenn Sie Platz haben, behalten Sie die alten Bilder aus dem Familienbesitz noch ein wenig. Bewahren Sie sie dunkel, trocken und relativ kühl auf. Über den schwierigen Umgang mit fotografischen Erinnerungsstücken.
Ich schaue fremde Menschen sehr gern an, vor allem wenn sie nicht mehr am Leben sind. Ein merkwürdiges Faible, werden Sie sagen. Daher muss ich präzisieren: Es sind die Bilder längst verstorbener Menschen, die mich interessieren. Warum? Weil Fotografien und Lebensgeschichten die Eigenheit haben, nach dem Tod der Porträtierten auseinanderzudriften. Für mich als Fotohistoriker tun sich durch das Herauslösen der Bilder aus den biografischen Zusammenhängen neue Perspektiven auf. Für Angehörige mag dieser Erinnerungsschwund schmerzhaft sein, auch verwirrend, meist passiert er einfach. Man hat ein Bild in der Schublade und weiß nicht mehr viel darüber. Irgendein Groß- oder Urgroßvater muss das sein, eine entfernte Tante, ein entfernter Onkel, ein Großneffe, wie hieß er überhaupt? Ja, gewiss, die Eltern haben gelegentlich über diese Bilder gesprochen. Aber das liegt schon ewig zurück.
Was damals geschah, ist auf manchen Fotografien nur mehr zu erahnen. Die Bilder aus früheren Zeiten sind oft leer und sprachlos geworden. Sie werden zum Ballast, zur Bürde. Nach dem Tod der Oma, des Opas, der Mutter, des Vaters stellt sich die Frage: wohin mit den Fotos, die niemand mehr anschaut? Weiter aufbewahren, wenn doch der Platz so knapp ist? Und wenn ja, für wen? Oder doch entsorgen, wegwerfen? Aber darf man denn das?
Immer wieder werde ich als Fotohistoriker kontaktiert: Was soll ich mit den alten Fotoschachteln, mit den Alben aus dem Familienbesitz machen? Hat die Diasammlung, die der Vater in den 1950er- und 1960er-Jahren zusammengetragen hat, noch irgendeinen Wert? Die vielen Urlaubsbilder, Reise- und Bergfotos? Und was ist mit den Kriegsfotos des Großvaters oder Urgroßvaters aus dem Ersten oder Zweiten Weltkrieg? Welches Archiv könnte sich dafür interessieren? Oder hätten gar Sie selbst dafür Verwendung? Letztere Frage beantworte ich meist abschlägig, denn meine Fotoregale sind voll. Auch ich stehe letztlich vor derselben Frage: Was soll aus all den Bildern, die ich zusammengetragen habe, werden?
Im Wust der Vergangenheit ersticken
Immerhin ist das Konterfei ehemals geliebter Menschen im Spiel. Darf man ihre Bilder dem Müll überantworten? Sie dem Vergessen ausliefern? Ja, man darf, lautet die eine Antwort. Wir könnten nicht existieren, wenn wir alle Erinnerungen, alle Erbstücke, alle Überlieferungen, die, ob wir es wollten oder nicht, in unseren Besitz gekommen sind, weitertragen würden. Ohne das Aussieben und Entsorgen alter Dinge würden wir im Wust der Vergangenheit ersticken. Und dennoch: Warum ist das Wegwerfen von Fotografien aus Familienbesitz oft mit Schuld und Scham verbunden? Weil die Fotografie eben kein einfaches, neutrales Stück Papier ist, auf dem Dinge, Landschaften und Menschen festgehalten sind. Die Fotografie besitzt, darauf hat der Theoretiker der Fotografie, Roland Barthes, mit Nachdruck verwiesen, auch magische Eigenschaften. Sie bewahrt die Spuren einer Person bis in unsere Gegenwart, ihre Blicke, ihre Gesten, ihren Körper.