Wort der Woche

Die Folgen des Krieges

Selbst wenn der Krieg in der Ukraine bald zu Ende gehen sollte, verschärft er den dramatischen Bevölkerungsrückgang, an dem das Land schon seit 30 Jahren leidet.

Der Krieg in der Ukraine hat zur größten Fluchtbewegung in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg geführt. Nach dem russischen Überfall am 24. Februar 2022 sind fast acht Mio. Ukrainer, v. a. junge Frauen und Kinder, ins Ausland geflohen – zusätzlich zu den gut fünf Mio. Binnenflüchtlingen. Auch wenn noch völlig offen ist, wie viele Ukrainer à la longue wieder zurückkehren werden, ist jetzt schon sicher, dass der Krieg dauerhaft tiefe Spuren hinterlässt. „Die Bevölkerung der Ukraine schrumpfte bereits vor dem Einmarsch Russlands rasant. Jetzt hat der Krieg die Ukraine auf den Pfad eines unumkehrbaren demografischen Rückgangs gebracht“, lautet der Schluss einer Studie des Joint Research Centers der EU mit starker Beteiligung des Instituts für Angewandte Systemanalyse (IIASA) in Laxenburg.

Die Ukraine hat nach ihrer Unabhängigkeit 1991 den Weg aller ehemaligen Ostblockstaaten genommen: wirtschaftliche Talfahrt, Rückgang der Geburtenzahlen, sinkende Lebenserwartung und hohe Auswanderung. Die allermeisten Reformstaaten konnten diese unheilvolle Entwicklung wieder umkehren. Nicht so die Ukraine, die durch die anhaltenden politischen Wirren und die Abtrennung der Krim 2014 noch weiter in eine Abwärtsspirale gerissen wurde: Die Fertilität ist mit unter 1,2 Kindern pro Frau die niedrigste in Europa. Die Bevölkerung schrumpfte von 51,7 Mio. in den frühen 1990er-Jahren bis Anfang 2022 auf 43,3 Mio. Und dann kam der Krieg.

Um die künftige Entwicklung abzuschätzen, haben die Forschenden nun vier Szenarien mit unterschiedlichen Annahmen über die Dauer des Kriegs, das Ausmaß der Vertreibung und die Rückkehr Geflohener nach dem Krieg durchgerechnet: Im pessimistischsten Szenario, das von einem langen Krieg und wenigen Rückkehrern ausgeht, schrumpft die Bevölkerung in den nächsten drei Jahrzehnten um 31 Prozent. Selbst beim optimistischsten Szenario, bei dem sich die Ukraine schnell vom Krieg erholt und zu einem Land mit mehr Zu- als Abwanderung wird, ergibt sich ein Bevölkerungsminus von 21 Prozent.

Dies ist eine echte Hiobsbotschaft, denn die demografischen Veränderungen bringen mannigfaltige Probleme mit sich, die den Wiederaufbau und die Entwicklung der Ukraine massiv erschweren werden – von Überalterung über Arbeitskräftemangel bis hin zu großen Schwierigkeiten, ein halbwegs gerechtes Sozialsystem zu finanzieren.


Der Autor leitete das Forschungsressort der „Presse“ und ist Wissenschaftskommunikator am AIT.

meinung@diepresse.com

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("Die Presse", Print-Ausgabe, 19.03.2023)

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