Gastkommentar

Erdogans Blendung der Welt wird ihm nicht nutzen

(c) Peter Kufner
  • Drucken

Nach einem Erdbeben kam Erdoğan 1999 an die Macht; es sieht in Umfragen so aus, als müsste er nach den jüngsten Beben abtreten.

DER AUTOR

Düzgün Arslantaş(*1987) ist Dozent und Postdoktorand an der Universität Köln, Cologne Center for Comparative Politics. Seine Forschung liegt an der Schnittstelle zwischen vergleichender Politik und politischer Ökonomie. Er ist Länderexperte für die Sustainable Governance Indicators (SGI) der Bertelsmann-Stiftung.

Noch vor einigen Wochen bestand Präsident Recep Tayyip Erdoğans Wahlkampfstrategie darin, außenpolitisch zu punkten, um von inneren Problemen abzulenken. Die katastrophale Situation in den Erdbebengebieten der Türkei erschwert dieses wahltaktische Manöver enorm. Nach einem Erdbeben kam Erdoğan 1999 an die Macht, und es sieht in aktuellen Umfragen so aus, als müsste er nach den diesjährigen Erdbeben abtreten. Weder hat die Regierung genug dafür getan, das Sterben zu verhindern, noch, den betroffenen Menschen schnell genug zu helfen.

Außenpolitisch stellte sich die Türkei in der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg auf die Seite des Westblocks unter der Führung der USA und intervenierte international kaum. Nachdem sie bei den Wahlen 2002 die Konkurrenz abschütteln konnte, begann für Erdoğans Partei (Adalet ve Kalkınma Partisi, kurz AKP) die Zeit der am längsten regierenden Einparteienregierung des Landes. Ihre „Erfolgsgeschichte“ bestand darin, sich radikal von der Politik der Nichteinmischung abzuwenden.

In der ersten Amtszeit verfolgte die AKP außenpolitisch eine Strategie, die ihre Existenz sichern sollte. Die AKP-Eliten glaubten, nur der Aufbau starker Beziehungen zur EU könne verhindern, dass die Partei vom Verfassungsgericht als Zentrum antisäkularer Aktivitäten verboten werde. Von der EU-Unterstützung versprach man sich außerdem größere Gewinne für AKP-freundliche Unternehmen, die von der Integration der Türkei in die europäischen und westlichen Märkte profitieren würden. Zunächst ging dieser Plan auf; er führte im Oktober 2005 zu Beitrittsverhandlungen mit der EU. Da einige EU-Mitglieder jedoch ihr Veto gegen eine weitere Erweiterung der EU einlegten, wurden diese Bemühungen schnell wieder gestoppt.

Der Rückschlag an der EU-Front schmälerte aber nicht den außenpolitischen Aktivismus der Türkei, die ihren Blick auf die arabischen Nachbarn richtete und unter Außenminister Ahmet Davutoğlu die „Null Probleme“-Politik erfand. Ihr Ziel war es, die historische Hegemonie der Türkei in der Region wiederherzustellen.

Politik der „Null Probleme“

Als gemäßigte Islamisten die ersten post-autoritären Wahlen in Ägypten und Tunesien gewannen, schien man diesem Szenario nah zu sein, doch die folgenden Unruhen machten den anfänglichen Optimismus zunichte.

Dieser Politikwechsel wirkte sich auch innenpolitisch aus. Erstens begann die Regierung nach ihrer Abwendung vom Westen eine autoritäre, populistische Agenda mit stark islamistischen und nationalistischen Tönen zu verfolgen. Zweitens nahm die Türkei 3,6 Millionen syrische Flüchtlinge auf und war damit das größte Aufnahmeland weltweit.

Das Image einer Türkei, die versucht, Islam und Demokratie auf friedliche Weise in Einklang zu bringen, ist seit dem Ende des Arabischen Frühlings ins Wanken geraten. Einerseits wird die Türkei zunehmend mit Terrorfinanzierung und Geldwäsche in Verbindung gebracht. Andererseits sind die Spannungen mit der EU wegen des Abkommens über die Rücknahme illegal aus der Türkei eingereister Flüchtlinge, der Liberalisierung von Visabestimmungen und der territorialen Ansprüche auf Energieressourcen im Mittelmeer gewachsen.

Neue Rolle als Kriegsvermittler

Nach dem russischen Einmarsch in die Ukraine nutzte Erdoğan erneut die internationale Bühne, um seine Macht im Inland zu festigen. Eine Nation muss ihre Neutralität jedoch unter Beweis stellen, um effektiv vermitteln zu können. In der jüngsten Außenpolitik der AKP, die etwa die radikalen Islamisten in Libyen unterstützt und im Bergkarabach-Konflikt Drohnen nach Aserbaidschan schickt, spiegelt sich indes keine Neutralität wider. Sie steht vielmehr in krassem Widerspruch zu Atatürks Motto, das bis 2002 für die türkische Außenpolitik galt: „Frieden im eigenen Land, Frieden in der Welt.“

Das Treffen russischer und ukrainischer Delegationen auf dem Demokratieforum in Antalya im März 2022, das zur Ausfuhr von Getreide aus ukrainischen Häfen führte, sowie der Austausch von Gefangenen waren nur dank türkischer Bemühungen möglich. Die Würdigungen von Erdoğans Vermittlungsbemühungen in den USA, der EU und der UN zeigen, wie klug er das Spiel bisher gespielt hat. Tatsächlich ist die Türkei mit ihrer proaktiven Rolle weit davon entfernt, den Konflikt zu deeskalieren. Ihr Engagement in diesem Krieg ist mehr auf eine Notwendigkeit zurückzuführen: Inmitten der sich verschärfenden Währungskrise will die Türkei die russischen Touristen nicht verlieren, die 2021 4,6 Millionen zählten. Trotz einer entschiedenen Verurteilung der russischen Invasion und der Lieferung von Kampfdrohnen an die Ukraine hat sich die Türkei den EU- und Nato-Sanktionen größtenteils nicht angeschlossen, um unparteiisch zu erscheinen.

Inwieweit kann das Erdoğan-Regime den Krieg nutzen, um innenpolitisch sein Ansehen im Vorfeld der Parlaments- und Präsidentschaftswahlen am 14. Mai zu verbessern? Erdoğan ist offensichtlich darum bemüht, die Legitimität seines Regimes auch international zu erhöhen. Dies sind jedoch alles andere als Lösungen für die politischen und wirtschaftlichen Probleme des Landes. Nach den Ergebnissen der Sustainable Governance Indicators (SGI) 2022 rangiert die türkische Demokratie im Vergleich der 41 untersuchten Industrieländer auf dem letzten Platz, da die Erdoğan-Regierung die Medien kontrolliert, die Justiz gleichgeschaltet hat und Oppositionelle willkürlich bestraft. Auch die Wirtschaftspolitik wird im internationalen Vergleich am schlechtesten bewertet (Rang 37), wenig verwunderlich bei einer rekordverdächtigen Inflation (85,5 Prozent im Oktober 2022).

Erster Schritt zurück

Weniger als zwei Monate vor den Wahlen 2023 kann Erdoğan nur noch auf die Spaltung der sechs Oppositionsparteien hoffen, die sich zusammengeschlossen haben, um seine Herrschaft zu beenden. Angesichts des starken Rückgangs der klientelistischen Ressourcen im Zuge der Wirtschaftskrise sowie der Wahlsiege der Opposition bei den Kommunalwahlen 2019 in Istanbul und Ankara hat die AKP nicht viel vorzuweisen, um vor desillusionierten Wählern zu bestehen. Die Opposition hat Kemal Kılıçdaroğlu, den Vorsitzenden der sozialdemokratischen CHP, für die Präsidentschaftskandidatur nominiert, einen Mann, der für seine gemäßigte und versöhnliche Haltung bekannt ist. Seine Wahl wäre ein erster Schritt zurück zu einer parlamentarischen Demokratie.

Erdoğans Aussichten verschlechtern sich durch die ineffiziente Politik seiner Regierung im Umgang mit den vielen Bürgern, die durch die Erdbeben in Not geraten sind, weiter. Mit fast 45.000 Toten und zwei Millionen Obdachlosen wird die Katastrophe bei der Wahl wahrscheinlich eine größere Rolle spielen als Erdoğans Versuch, sich als großer diplomatischer Akteur im russisch-ukrainischen Krieg zu inszenieren.

Übersetzt aus dem Englischen v. Karola Klatt.

E-Mails an: debatte@diepresse.com

Gastkommentare und Beiträge von externen Autoren müssen nicht der Meinung der Redaktion entsprechen.

>>> Mehr aus der Rubrik „Gastkommentare“

("Die Presse", Print-Ausgabe, 24.03.2023)

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.