Martin Leidenfrost traf eine Mitarbeiterin des größten Atomkraftwerks in Europa, das seit 2022 unter russischer Besatzung steht.
Ich kannte Enerhodar/Energodar, die Plattenbausiedlung beim südukrainischen Atomkraftwerk Saporischschja, einst als liederliche Partystadt. Um zu erfahren, wie das Leben dort aussieht, treffe ich eine Mitarbeiterin des AKW. Manchmal frage ich nach, ob sie das Erzählte selbst gehört oder gesehen hat. Die Aussage „Ihr seid unsere Sklaven“ hat sie nicht selbst gehört, die prügelnden Okkupationssoldaten hat sie nicht selbst gesehen, den Folterkeller in den weitläufigen Geschoßen unter den sechs Reaktoren natürlich auch nicht. Die Frage, welche Kriegspartei immer wieder das Gelände beim AKW beschießt, ist für sie nicht offen. Mindestens die Hälfte von Energodars Bevölkerung ist geflohen, im Spätsommer auch sie. Sie sagt: „Die Hälfte der Belegschaft hat Verträge mit Rosatom unterschrieben, man versprach ihnen rasche Beförderung und das dreifache Gehalt, das wurde aber kurz darauf gleich wieder auf die Hälfte gekürzt.“
Die Kollaboration beschreibt sie als bedeutend, allein schon wegen der russischen Siedlungsgeschichte der jungen Stadt, vermutlich die Hälfte der verbliebenen Hälfte kollaboriert. Unter den Besatzern sind neuerdings Dorfburschen aus der Umgebung zu sehen, in der Augusthitze des vier Tage währenden Ausreisestaus verkauften hiesige Buben zu Wucherpreisen russisches Eis. Andere russisch-stämmige Energodarer hassen inzwischen den russischen Staat.
Sie patrouillieren auf dem Markt
Die Taufpatin ihrer Kinder versuchte ihrer in Russland lebenden Schwester auf Skype die Vorstellung auszureden, Russland würde die Ukraine von Nazis befreien. Die Schwester antwortete ganz ruhig: „Ich weiß sehr gut, was bei euch los ist – mein Serjoscha ist nämlich dort.“ Am Skype-Telefonat nahm ebenso der Mann der Taufpatin teil, auch er verurteilte die Invasion. Zwei Stunden später klopfte es – russische Soldaten schlugen ihn zusammen.