Spectrum

Die Hoffnung ist ein Fake

„Der Mensch ist ein vorsichtig spekulierender Bittsteller gegenüber der Zeit.“
„Der Mensch ist ein vorsichtig spekulierender Bittsteller gegenüber der Zeit.“ Anatoly Maltsev / EPA / pictured
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Jeden Tag fragte mich Patricia nach meinem Vater. Eines Tages lud sie mich zum Mittagessen ein, wir wechselten ein paar banale Sätze, dann sagte sie: Du weißt, dass es für deinen Vater keine Hoffnung mehr gibt? Nach kurzem Zögern sagte ich: Ja.

Vor dreißig Jahren arbeitete ich vorübergehend in einem Büro des Jewish Refugee Comittee in London. Das Büro hatte nach Jahrzehnten des stillen Betriebs durch den Jugoslawienkrieg wieder aktive Aufgaben der Flüchtlingsfürsorge, doch ich war damit betraut, Anfragen zu bearbeiten, für die man deutsch, gelegentlich auch russisch lesen können musste. Bei vielen Anfragen handelte es sich um Erkundigungen nach Familienangehörigen, manchmal auch Freunden, die auf irgendeinem Weg zumindest dem Vernehmen nach bis Großbritannien gekommen waren. Seltener, wenn es etwa um ein Erbe ging, waren es Behördenanfragen. In der Regel waren es Briefe von Geschwistern oder Cousins, die fast fünfzig Jahre nach der Shoah nach verschollenen Nächsten suchten, noch ein Stück Papier besaßen, auf dem ein Ort, eine Adresse gekritzelt war, oder auch nur aus der Erinnerung Namen, Orte, Fluchtrouten nannten.

Das Büro befand sich in einer Kelleretage an der Euston Road. Die kleinen vorderen Fenster, ein Stück über Augenhöhe, befanden sich auf Gehsteigniveau. Mein Platz war im hinteren, fensterlosen Teil des Büros, wo sich die Kästen mit unzähligen Mikrofilmrollen befanden, auf die die Unterlagen der Dreißiger- und Vierzigerjahre übertragen worden waren. Es war ein sehr heißer Juni. Mein Vater lag seit Tagen in einem induzierten Koma nach einer missglückten Herzoperation, anfangs waren die Prognosen gut, mit den Tagen wurden sie immer düsterer. Die Arbeit lenkte mich ab. Je schlechter die Prognosen für meinen Vater wurden, desto besessener suchte ich nach Antworten auf die Suchen der Briefeschreiber und -schreiberinnen. In der Mittagspause saß ich vor einem Sandwichcafé in einer Nebenstraße und fragte mich, was sie so lange hatte zögern lassen.

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