Sunset Boulevard / Los Angeles
Cordula Reyer

Los Angeles ist dunkler geworden

Auf den ersten Blick kam ihr die Stadt komisch vor, später wurde sie ihr Zuhause. Cordula Reyer, Ex-Model und nun Journalistin, über ihre zweite Heimat Los Angeles: damals und heute.

Los Angeles sah ich das erste Mal auf einer Postkarte. Sie zeigte eine seltsam anmutende Stadt, mitten in einer Wüste. Ich war sieben Jahre alt. Mein Vater war auf Tournee, reiste einen Monat lang durch die USA und schickte Postkarten von all den Orten, die er besuchte. Die Karten nähte meine Mutter mit einem roten Wollfaden zusammen. Das Patchwork Plakat aus zusammengenähten Postkarten bedeckte eine ganze Wand unserer Wohnung, bis mein Vater schließlich nach Wien zurückkehrte. Aus den USA brachte er auch Schallplatten mit. Und so erklang in unserer Wohnung statt der üblichen klassischen Musik plötzlich „Simon und Garfunkel“. Diese Songs lösten in mir ein Gefühl der Sehnsucht aus. Wonach ich mich genau sehnte, wusste ich freilich nicht. Aber irgendwie lag der Musik etwas Neues, Fernes und Exotisches inne, sodass sie mich in Gedanken an einen unbekannten Ort reisen ließ.

14 Jahre die "Presse am Sonntag"

Haben Sie die Jubiläumsausgabe verpasst? Hier können Sie sie nachbestellen.
Alle Artikel der Jubiläumsausgabe gibt es auch online hier.



Im Sommer 1983 war es dann tatsächlich so weit. Mein Bruder und ich besuchten Freunde in den USA. Nach einer Woche in New York machten wir uns auf den Weg nach Los Angeles. Als ich beim Anflug durchs Flugzeugfenster das endlos wirkende Meer an Häusern ausgestreckt an der Westküste liegen sah, war ich zugleich begeistert und irgendwie von Panik ergriffen. Ich dachte: Das soll Los Angeles sein? Was ist denn das für eine komische Stadt? Wo ist da ein Stadtzentrum? Für mich sah das alles wie der überdimensionierte Parkplatz eines gewaltigen Einkaufszentrums aus. Oder wie ein riesiges kariertes Stück Papier, das auf dem Wüstenboden lag.

Kaffeehäuser gab es nicht. Für zwei Wochen wohnten wir in „Howard's weekly Apartments“, einem leicht heruntergekommenen Gebäude um die Ecke des damals gleichermaßen heruntergekommenen Hollywood Boulevard. Die menschenleeren Straßen erstaunten mich genauso wie die unzähligen vorbeifahrenden Autos, in denen so gut wie immer nur eine einzige Person saß. Ich verspürte einen unbändigen Drang, in ein Kaffeehaus zu gehen, Menschen zu sehen, mich mit ihnen zu unterhalten. So etwas gab es hier aber damals einfach nicht.
Da ich keinen Führerschein hatte und angesichts der gewaltigen Distanzen, gestaltete sich unser Aufenthalt als reichlich umständlich. An einem glühend heißen Tag stiegen wir in den Bus, um an den Strand zu fahren. Fragen beantwortete der Busfahrer lediglich, indem er ein abgerissenes Stück Pappkarton in die Höhe hielt, auf dem auf einer Seite mit schwarzem Kugelschreiber „Yes“ und auf der anderen „No“ stand. Er wollte anscheinend nicht ausführlicher antworten.

Dank Klimaanlage erschien uns die Temperatur im Bus angenehm kühl. Allerdings hatten wir die Entfernung bis zum Strand völlig unterschätzt. Stau war obendrein. Nach zwei Stunden Fahrt erreichten wir dann endlich, schlotternd vor Kälte, Santa Monica. Doch da wartete bereits die nächste Enttäuschung. Der Strand lag neben dem stark befahrenen Pacific Coast Highway und schien alles andere als einladend. Genau wie der eiskalte, braungefärbte und aufgebauschte Ozean.

Es brauchte Zeit, bis wir die Stadt zu schätzen lernten, bis wir ihrer Hässlichkeit und Unpersönlichkeit einen ganz eigenen Charme abgewinnen konnten. Damals bestand sie nahezu ausschließlich aus einstöckigen Gebäuden. In vielen Fällen weit überragt von den ikonischen hohen Palmen, die die Straßen säumen. Und die, wie man uns erklärte, gar nicht heimisch sind in Kalifornien, sondern erst im 19. Jahrhundert hier ausgepflanzt wurden. Gleiches gilt für die Korallen-, die Eukalyptus - und die lilafarbenen Jacaranda-Bäume.

Die Palmen-Alleen, die Parks, die Gärten und Pflanzen bildeten die wahre Attraktion von Los Angeles. Alles blühte und alles duftete. Irgendwann begann ich, diesen Wilden Westen auch als das Ende der Welt zu sehen. Und die Weite und Anonymität der Stadt als etwas Befreiendes zu empfinden. Das Meer, die Berge, der blaue Himmel und das goldenen Licht machten uns glücklich. Gelebt haben wir von Hamburgern, Coca Cola und Lucky-Strike-Zigaretten. Ich kaufte mir eine Latzhose, ein Freund schnitt mir die Haare ab und ich fühlte mich wie ein neuer Mensch in dieser neuen Welt. Die zwei Wochen vergingen schnell. In Wien angekommen, musste ich sofort weiter nach Vorarlberg, um bei einer Modemesse österreichische Mode vorzuführen. Ich schaffte es kaum in die Kleider, denn ohne es zu merken, hatte ich fünf Kilo zugenommen.

Nachdem ich wieder abgenommen hatte, führte mich mein Beruf als Model Ende der 1980er-Jahre erneut nach Los Angeles. Inzwischen war ich Mutter eines vierjährigen Sohnes. Einer meiner ersten großen Jobs war eine Modestrecke für die amerikanische Vogue mit dem New Yorker Fotografen Steven Meisel. Und die fand in LA statt. Dieses Mal wohnte ich im prachtvollen Beverly Hills Hotel im Stil der 1950er-Jahre, das am Sunset Boulevard liegt und wegen seiner Farbe auch der rosa Palast genannt wird.

Alles dort versprühte den Glanz des alten Old Hollywood. Einst logierten hier Buster Keaton, Elisabeth Taylor, Marylin Monroe oder John Lennon. Das Bild des Hotels prangte auf dem Album-Cover der lokalen Band „The Eagles“, was angeblich für eine Verdreifachung der Buchungsanfragen sorgte. Auch meine Model-Buchungen hatten sich verdreifacht und mein Agent riet mir, schleunigst nach New York zu ziehen.

Doch mit einem kleinen Kind kam New York für mich nicht in Frage. LA und das Klima gefielen mir, und am Meer wollte ich schon immer leben. Einen Führerschein hatte ich inzwischen, und so war es auch ein Leichtes, die Stadt weiter zu erkunden. Ich beschloss, hier zu überwintern und bezog einen kleinen Bungalow in den Pacific Palisades, ein Viertel, das damals wie ein Dorf zwischen Santa Monica und Malibu lag. Schließlich wurden aus sechs Monaten zwanzig Jahre.

Bürgerkriegsähnliche Zustände. In LA wurde ich mit Dingen konfrontiert, die mir völlig fremd waren. Der Freispruch von vier Polizisten im April 1992, die den Afroamerikaner Rodney King verprügelten und misshandelten, löste bürgerkriegsähnliche Zustände aus. In der Stadt herrschte ab 21 Uhr Ausgangssperre. Bis dahin war mir das Ausmaß des Rassismus und der Spannungen zwischen den Rassen in den USA nicht klar gewesen. Das alles erschreckte und bewegte mich zutiefst.

Ein weiterer Schock waren die heißen Santa-Ana-Winde, die im November 1993 einen Brand immer wieder anfachten, sodass sich das Feuer von Malibu bis zu den Santa Monica Mountains ausdehnte. Wir hatten unser Auto schon mit den wichtigsten Dingen gepackt und bereiteten uns auf die angekündigte Evakuierung vor. Tagelang kreisten Hubschrauber und Tankflugzeuge, schöpften Unmengen an Wasser aus dem Pazifik und schütteten es auf die Flammen.

Der Himmel leuchtete rot und nachdem das Feuer nach einer Woche gelöscht wurde, regnete es tagelang Asche. Kurz darauf, im Jänner 1994, kam es zu einem heftigen Erdbeben, das uns mitten in der Nacht aus dem Bett riss. Als wir Eltern dann zitternd unseren schlafenden Sohnes aus dem Bett zerrten und in den Garten flüchteten, blieben wir bis in der Früh auf dem Rasen sitzen, ängstlich über die vielen Nachbeben. Partys gab es freilich auch. Man feierte in der Villa von Madonna oder Mickey Rourke und seiner damaligen Frau Carrie Otis. Ich lief am Laufsteg vor Spielberg, war bei der Oscar-Fete von Russel Crowe.

Steckbrief

Das Grün verschwindet. Was hat sich über die Jahre in dieser Stadt verändert? Heute schießen allerorts Hochhäuser in den Himmel, ständig entstehen neue Häuserblöcke und Straßenkreuzungen, sodass ich manche Viertel kaum wiedererkenne. Die Stadt ist dunkler geworden, ihr Licht hat sich verändert. Gemeinsam mit dem Grün der Pflanzen, das das Stadtbild einst so einzigartig machte, verschwindet es heute hinter den Hochhäusern. Nahezu im Gleichschritt mit den Neubauten entstanden die Zeltsiedlungen der ständig wachsenden Zahl der Obdachlosen.

Seit einigen Jahren gibt es ein U-Bahn-Netz, das stetig ausgebaut wird – und somit endlich auch Alternativen zu den Endlosstaus. Innerhalb der großen Stadt entstehen Zentren, ja kleinere Städte. Dank der U-Bahn bewegen sich die Menschen, besuchen andere Viertel und vermischen sich weit mehr, als das früher der Fall war. Allerorts eröffnen Bars und Kaffeehäuser, viele mit Gastgärten. Und der einst so einsam trostlose und vernachlässigte Hollywood Boulevard ist heute eine boomende Touristenattraktion. Aus Los Angeles, das einst wie ein einziger endloser Vorort wirkte, ist eine pulsierende Stadt geworden.

Gleich geblieben ist die unmittelbare Nähe zur Natur. Die Santa Monica Mountains und das Meer mit seinen Delfinen und den Pelikanen, die über die Wellen gleiten. Obwohl er hier so unfreundlich wirkt, liebe ich den Pazifik, der mir bei etlichen Spaziergängen oft Mut und Trost gab und all die Geheimnisse, die ich ihm erzählte, für sich behielt. Fast wie eine gute Freundin.Cordula Reyer ist ein bekanntes ehemaliges Model. Die gebürtige Wienerin machte in den 1980er- und 1990er-Jahren international Karriere und lief unter anderem auf Modeschauen für Dolce & Gabbana, Prada oder Helmut Lang.

Journalistin. Nach dem Ende ihrer Modelkarriere begann sie, Texte zu veröffentlichen. Mittlerweile arbeitet sie als Autorin und Journalistin unter anderem für „Die Zeit“ und die „Welt“. In dieser Ausgabe führte sie etwa ein Interview mit dem Sohn von Schauspiellegende Oskar Werner (Seite 62).

Familie. Cordula Reyer ist die Tochter von Burgschauspieler Walther Reyer. Sie hat einen Sohn und lebt abwechselnd in Los Angeles und Wien.

Lesen Sie mehr zu diesen Themen:


Dieser Browser wird nicht mehr unterstützt
Bitte wechseln Sie zu einem unterstützten Browser wie Chrome, Firefox, Safari oder Edge.