Redetext

Wolodymyr Selenskijs Rede im Parlament im Wortlaut

Per Video war Selenskij am Donnerstagvormittag im österreichischen Parlament zugeschaltet.
Per Video war Selenskij am Donnerstagvormittag im österreichischen Parlament zugeschaltet.IMAGO/SEPA.Media
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„Bitte denken Sie daran: Wenn wir um Unterstützung für die Ukraine bitten, bitten wir darum, Leben zu retten.“ Die Rede des ukrainischen Präsidenten Selenskij in der deutschen Übersetzung der ukrainischen Botschaft.

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskij hat am Donnerstag via Liveschaltung im Nationalrat gesprochen. Seine Rede im Wortlaut gemäß Übersetzung der ukrainischen Botschaft

Sehr geehrte Vertreter der Staatsführung Österreichs! Sehr geehrte Anwesende! Sehr geehrter Herr Bundespräsident! Sehr geehrter Herr Präsident des Nationalrates! Liebes österreichisches Volk! 

Zunächst möchte ich drei Ihrer Städte, den Krankenhäusern Ihrer drei Städte - Wien, Linz und Graz - danken. In den Kliniken dieser Städte wurden unsere Leute aus der Stadt Brovary in der Region Kyjiw gerettet, die infolge der Hubschrauberkatastrophe im Jänner schreckliche Verbrennungen erlitten hatten. Danke an alle, die den Ukrainer:Innen damals geholfen haben! 

Es war ein wichtiges Zeichen der Unterstützung, als Ihr Bundeskanzler, Herr Nehammer, und die österreichische Bundesregierung, diese Hilfe anboten. Wir in der Ukraine schätzen jedes Leben und wissen all jene zu schätzen, die uns helfen, Menschen zu retten. 

Sehr geehrte Damen und Herren! 

Heute ist bereits der vierhundertste Tag des Krieges, den unser Land überleben muss. Russlands totaler Krieg gegen unser Volk und gegen alles, was Menschen zu Menschen macht.  Jeden Tag... Leider verlieren wir jeden Tag unsere Leute in diesem Krieg. 

Wir verlieren diejenigen, die ihr Leben im Kampf gegen die Besatzer für die Freiheit der Ukraine und aller Völker opfern, deren Gebiet und Potenzial Russland als Teil seines Reichs einnehmen will. Wir verlieren Menschen durch Terroranschläge und Luftangriffe, die die russische Armee sogar dort verübt, wo russische Soldaten unter dem Druck unserer Verteidiger:Innen zur Flucht gezwungen wurden. Wir verlieren das Leben und die Gesundheit unseres Volkes durch die Explosionen von Minen und Granaten, die von russischen Terroristen zurückgelassen wurden. 

Wir verlieren sie auch deshalb, weil es dieser schreckliche Krieg für einige Gebiete verunmöglicht, die medizinische Hilfe rechtzeitig und vollständig zu leisten. 

Ich gebe Ihnen nur ein Beispiel – stellen Sie sich nur einmal vor, WAS das bedeutet und wie viele andere derart große Gefahren der Krieg mit sich bringt. 174.000 Quadratkilometer des Territoriums der Ukraine sind durch Landminen verseucht, gelegt von den Besatzern, wie auch von russischen Granaten verschiedener Art, die nicht explodiert sind.

Dieses Gebiet ist doppelt so groß wie Österreich. Das sind Hunderttausende Antipersonenminen und Panzerabwehrminen, Raketen der Raketenartillerie, Fliegerbomben, Mörser, die, ohne zu explodieren, in den Feldern und den Überresten von Häusern geblieben sind. Es gibt sogar noch Sprengfallen mit Granaten, die die Besatzer gezielt gegen Zivilisten, einfache Menschen, hinterlassen haben. Die noch in Häusern und Autos, an Straßenrändern, in Gärten und Parks, in Städten ... sind. 

Eine Handgranate, von einem der russischen Soldaten unter einem Plastikbecher getarnt, befand sich bei Brovary in der Region Kyjiw. Oder eine Granate, die die Russen in einem gewöhnlichen Haus unter dem Deckel eines Klaviers platzierten, in der Stadt Butscha.

Eine Sprengfalle in einem Schrank in der Küche des Hauses ... Der Besitzer dieses Hauses wurde von russischen Soldaten erschossen, seine Leiche wurde im Hof begraben. Das war auch in Butscha. Eine Antipersonenmine, getarnt als eine scheinbar gewöhnliche Tasche mit irgendwelchen Sachen. Das war in der Stadt Irpin, Region Kyjiw...

Eine Handgranate, die in einem gewöhnlichen Haus in einer Waschmaschine zurückgelassen wurde, so dass die Explosion passiert, als eine Person einfach die Waschmaschinentür öffnet... Das war in einem gewöhnlichen Haus in einem gewöhnlichen Dorf der Region Kyjiw. 

Es gibt Tausende von solchen Beispielen. Tausende mehr, die wir entminen konnten. Tausendmal haben wir so ein Leben gerettet. Leider gibt es täglich Berichte über Explosionen, die Menschen getötet oder verstümmelt haben. Und all das ist Teil des heutigen Selbstporträts Russlands, das es mit seiner Aggression, seinem wahnsinnigen Krieg, erschafft. 

Sehr geehrte Staatsführung Österreichs!   Liebes österreichisches Volk!

Bitte denken Sie daran: Wenn wir um Unterstützung für die Ukraine bitten, bitten wir darum, Leben zu retten. Die Ukraine hat nie Fremdes gewollt oder es sich einfach genommen. Uns interessiert das fremde Land nicht. Wir wollen uns nicht in das Leben anderer Menschen einmischen. Die Ukrainer haben nie gewollt, dass irgendjemand irgendwo auf der Erde wegen unserer Soldaten leidet, oder womöglich sogar stirbt. 

Wir wünschen uns Sicherheit und Frieden, Freiheit und Glück für unsere Kinder in unserem ukrainischen Zuhause. Wir streben danach, dass internationale Verträge und Konventionen eingehalten werden, die die Sicherheit der Völker und die Souveränität der Staaten garantieren. Ist das ein zu hoher Anspruch? Kann man so etwas einfach wegwerfen? 

Im vergangenen Herbst habe ich unsere Friedensformel präsentiert. Zehn sehr konkrete und realistische Punkte, die die volle Kraft der UN-Charta und anderer grundlegender internationaler Dokumente wiederherstellen und diese verrückte Aggression stoppen können, indem sie die Befreiung der Ukraine vom russischen Übel und die Rettung unseres Volkes sicherstellen.

Übrigens ist die humanitäre Minenräumung eines der Elemente unserer Friedensformel. Aber was hat die Welt als Reaktion auf die Friedensformel von Russland gehört und gesehen? Weitere Lügen, weitere Leugnung, nur weitere Manifestation des Bösen. Ich bin den Österreicher:Innen dafür dankbar, dass Sie mit Ihrer Antwort noch mehr Unterstützung für das ukrainische Volk, unseren Staat und das Völkerrecht geleistet haben. 

In diesem Kriegsjahr haben mehrere Delegationen der österreichischen Regierung und Abgeordnete Ihres Nationalrates die Ukraine besucht. Ich war erfreut, produktive Treffen mit dem Bundeskanzler von Österreich, Herrn Nehammer, zu haben. Und auch mit Ihnen, sehr geehrter Herr Bundespräsident Van der Bellen, als Sie vor kurzem in Kyjiw waren.

Ich lade Sie, Herr Nationalratspräsident, und weitere verehrte Vertreter:innen des österreichischen Parlaments ein, unser Land ebenfalls zu besuchen, mit unserem Volk ins Gespräch zu kommen und mit eigenen Augen in den besetzten Gebieten oder in den frontnahen Regionen zu sehen, was Russland heute ist, was es der Ukraine und der Welt antut. Das zu sehen, unsere Leute zu hören, bedeutet zu verstehen. 

Zu verstehen, wie wichtig jede Stimme zur Unterstützung des Völkerrechts und der Ukraine ist, wenn entsprechende Themen von der UN-Generalversammlung, dem Europäischen Parlament oder anderen internationalen Plattformen diskutiert werden. Jede Stimme der Unterstützung und für Sanktionen und anderer globalen Schritte, die Russland die Möglichkeit entnehmen, seine Aggression zu erhöhen.

Unser Volk jetzt zu unterstützen bedeutet zu verstehen, wie wichtig es ist, gegenüber dem Bösen nicht moralisch neutral zu bleiben.

Hier geht es nicht um Geopolitik, es geht nicht um militärpolitische Fragen. Hier geht es darum, dass die Menschen immer – immer! - menschlich bleiben müssen, ihre Menschlichkeit und Zivilisiertheit bewahren müssen.

Ich danke Österreich für die humanitäre Hilfe für die Ukraine. Insbesondere gilt mein Dank an jede(n) Österreicher:in, die sich an der Aktion „Nachbar in Not“ beteiligt haben. Das schätzen wir sehr.

Vielen Dank für Ihre Hilfe beim Schutz unserer Energiebranche vor russischen Raketenangriffen. Danke, dass Sie unsere Bemühungen unterstützen, unser Land zu entminen und unsere Menschen nach den Folgen der russischen Aggression zu behandeln, sowie zu rehabilitieren. 

Und ich freue mich sehr auf diesen Moment, auf diesen glücklichen Tag, an dem ich Österreich für die Hilfe bei der Wiederherstellung des Friedens in unserem Land danken kann. 

Ich bin sicher, dass die Ukraine diesen Krieg gewinnen wird. Ich bin sicher, dass das Völkerrecht wiederhergestellt wird. Ich bin sicher, dass die ukrainische Friedensformel der Welt helfen wird, sich vor anderen ähnlichen Aggressionen zu schützen.

Und ich bin sicher, dass wir – trotz allem – unsere Menschlichkeit, unsere Zivilisation, unsere Moral und unseren Glauben bewahren werden, dass das Böse immer verlieren wird. 

Danke an alle, die der Ukraine helfen! Ewige Erinnerung an alle, die dem brutalen russischen Krieg zum Opfer gefallen sind! 

Danke, Österreich! 
Ruhm der Ukraine! (Slawa Ukraini)

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